Zeichnung von Sören Kierkegaard

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Biografie

Kierkegaard, der Philosoph des Herzens

Den dänischen Philosophen Sören Kierkegaard ereilte am 2. Oktober 1855 auf einer Kopenhagener Straße ein Schlaganfall, in dessen Folge er am 11. November starb. Er wurde nur 42 Jahre alt. Und dennoch ist sein Einfluss bis heute ungebrochen. Die englische Philosophieprofessorin Claire Carlisle hat eine Biografie über ihn geschrieben.

Clare Carlisles Kierkegaard-Biografie "Der Philosoph des Herzens" könnte auch mit "Der Sokrates des Christentums" überschrieben sein. Die Autorin hat die biografisch bedingten Prägungen des großen Philosophen des Nordens untersucht, um herauszufinden, was diesen dazu motiviert hat, in der Rolle des "Sokrates des Christentums" die Erneuerung desselben sich zur Lebensaufgabe zu machen: Mit der an dem griechischen Philosophen geschulten Methode des Hinterfragens trat Kierkegaard gegen die Sophisten seiner Zeit an, gegen die kirchlichen Würdenträger und die Samt- und Seide-Pastoren, um die Weltlichkeit des Luthertums des 19. Jahrhunderts zu korrigieren, so wie Luther seinerseits im 16. Jahrhundert die Verdorbenheit und Exzesse der katholischen Kirche angeprangert hatte.

Claire Carlisle, selbst Philosophin, hat sich viele Jahre lang der Auseinandersetzung mit diesem Denker gewidmet. Mit einem besonderen Verständnis für Kierkegaards seelische Zerrissenheit ist sie hineingeschlüpft in seinen Geist und in sein Herz und hat das konfliktreiche Verhältnis all seiner Persönlichkeitsanteile von innen heraus nachvollzogen. Sich hineinzudenken und hineinzufühlen in das innere Erleben dieser "Menschwerdung", das ist die große Leistung dieser Biografie. Mit dem folgenden Anspruch bezieht sich der dänische Philosoph auf Sokrates: So wie der griechische Philosoph bezweifle auch er, dass eine Person von Geburt an Mensch sei: Kierkegaard wörtlich: "Man gleitet nicht einfach ins Menschsein oder erhält das Wissen darüber, was es bedeutet, ein Mensch zu sein."

Sokrates des Christentums

Auf die Rolle des "Sokrates des Christentums" führt die Autorin ihre Leser behutsam hin, indem sie in der ersten Hälfte ihres Buchs Kierkegaards eigene verschlungene Wege mit vielen Rückblenden nachzeichnet.

Die Biografie setzt 1843 ein, Soren Kierkegaard ist soeben 30 geworden, er befindet sich auf dem Weg von Berlin zurück nach Kopenhagen, zum ersten Mal im Waggon einer Eisenbahn - die erste Berlin-Reise hat er noch in der Postkutsche zurückgelegt. "Entweder - Oder" ist schon erschienen, "Die Wiederholung" gerade abgeschlossen, mit "Furcht und Zittern" hat er bereits begonnen. Am Finger trägt er den zu einem diamantenen Kreuz umgearbeiteten Verlobungsring, den er einst Regine Olsen geschenkt hat; die Verlobung hat er eineinhalb Jahre zuvor gelöst. Der Bruch mit Regine wird zur schmerzlichen Erfahrung, die sein Leben fortan begleiten wird.

Gesicht eines jungen Mannes auf dem Buchcover

Klett-Cotta

Rückwärts verstehen, vorwärts leben

Das Leben rückwärts verstehen, aber vorwärts leben - ein Satz, der genau besehen, damit ende, so Kierkegaards Kommentar, dass, "das Leben in der Zeitlichkeit nie recht verständlich wird, eben weil ich keinen Augenblick vollkommene Ruhe finden kann, um die Stellung: rückwärts einzunehmen".

Carlisle legt diesen Blick nicht nur der Erzählweise ihrer Biografie zugrunde, sie erklärt durch diesen Befund Kierkegaards, wodurch sich sein Werk von anderen, geschlossenen philosophischen Systemen seiner Zeit so grundlegend unterscheidet. Sein Denken ist akademisch betrachtet eine Antwort auf die Philosophie der Romantiker, auf Schelling etwa, den er in Berlin selbst gehört hat. Vor allem Hegels dialektische Philosophie als Lösungsangebot begreift er als intellektuelle Hybris. Ihm selbst aber geht es jedoch in seinen Schriften um eine Hilfestellung beim schwierigen Prozess der Menschwerdung jedes einzelnen, und er benutzt zum philosophischen Erkenntnisgewinn die von Sokrates betriebene Technik des Hinterfragens sowie dessen Mittel der Ironie, um Fragen wie diese zu beantworten: Wie kann ich Mensch sein in der Welt? Wie kann man in der Welt Christ sein oder vielmehr: Christ werden? Er meint damit: Wie ist das Leben zu leben?

Dem Menschen gegenüber schuldig

Gerade die eigene schmerzliche Lebenserfahrung hat ihn erst dazu ermächtigt, dem inneren Ruf als Schriftsteller und Philosoph zu folgen und seine Lebensaufgabe zu erfüllen. Sie erscheint ihm mit den Erwartungen der bürgerlichen Gesellschaft an einen Ehemann und dessen Rolle in der Welt unvereinbar zu sein, und so erkennt er in seinem Heiratsantrag an Regine Olsen eine Fehlentscheidung. Mit den Konsequenzen seiner Entlobung leben zu müssen, dem Urteil der bürgerlichen Gesellschaft ausgesetzt und vor allem einem anderen Menschen gegenüber schuldig geworden zu sein, um "man selbst" werden zu können, das wird sein Denken und Schreiben ein Leben lang begleiten.

Die Reflexion über das menschliche Herz war es wiederum, die ihm das Interesse und die Zustimmung vor allem der zeitgenössischen weiblichen Leserschaft so auffallend sicherte. Carlisle hat deren Zeugnisse gut dokumentiert, sie rechtfertigen den Titel ihrer Biografie "Der Philosoph des Herzens", als den ihn gerade seine Leserinnen erkennen: Eine von ihnen schreibt an Kierkegaard: "Ich bezweifle, dass es eine einzige Saite im menschlichen Herzen gibt, die Sie nicht anschlagen können, keinen Winkel, den Sie nicht durchdrungen hätten."

Widersprüche in seinem Leben

Gleichwohl ist Kierkegaards Verhältnis zum weiblichen Geschlecht nicht ohne Widersprüche, so wie er auch andere Widersprüche in seinem Leben zusammenzuführen sucht: Der zum Theologen und Philosophen ausgebildete Schriftsteller fügt die Dichtung der Philosophie hinzu und umgekehrt, der Christ Kierkegaard fordert die Aufwertung des Ideals der Entsagung ein und betont dennoch die Notwendigkeit, in der Welt zu sein.

Seine vielen Seelenanteile verbirgt er nicht zuletzt hinter zahlreichen Pseudonymen, mit denen es ihm lange Zeit gelingt, seine Autorschaft zu verschleiern. Das Zusammenspiel von Nicolas Notabene, Vigilius Haufniensis, Johannes Climacus und Soren Kierkegaard seien Boten von Kierkegaards Innerlichkeit, schreibt Carlisle, ebenso kunstvoll wie lyrisch in der Preisgabe seiner Seele. Die Pseudonyme verschleierten nicht nur Kierkegaards Identität, so das Urteil der Autorin, sondern auch seinen Wunsch nach Anerkennung. Gemeinsam verkörperten sie sein Ideal und wahrten doch den Abstand zur Welt, die dazu angetan war, den hochsensiblen, stets um sich selbst kreisenden Philosophen durch ihr Urteil über ihn herauszufordern.

Der finale Angriff

Regine Olsen wird er ein Leben lang treu bleiben, und zwar auf eine "nur ihm selbst verständliche Weise", so Carlisle: nämlich durch sein Schreiben. 1855 verlässt Regine Dänemark gemeinsam mit ihrem Mann, der in die Kolonien versetzt worden ist. Kierkegaard stirbt nur acht Monate später. Die Umstände seines Todes sind bemerkenswert: Um Regines christlichen Gefühle nicht zu verletzen, hat er seinen finalen Angriff auf das offizielle Christentum erst nach ihrer Abreise publizistisch lanciert, mit den letzten finanziellen Mitteln, die ihm von seinem Erbe verblieben sind, das ihm bis dahin den Lebensunterhalt gesichert hat. Kurze Zeit nach diesem skandalträchtigen öffentlichen Schlagabtausch erleidet er einen körperlichen Zusammenbruch und stirbt am 11. November 1855 mit nur 42 Jahren vermutlich an den Folgen einer Entzündung des Rückenmarks.

Sein melancholisches Einsiedlertum mit der Anlage zum seelischen Leiden hat er als selbst gewähltes Martyrium empfunden und sich selbst in der Rolle des unangepassten Rebellen gegen die bürgerliche Gesellschaft, der die Wahrheit des Christentums ins rechte Licht rückt, dabei als "Spielzeug der Vorsehung" begriffen.

Vermächtnis an die Gegenwart

Auf die philosophischen Fragen der Moderne hat Sören Kierkegaard großen Einfluss genommen: Ein Jahrhundert später wird die Existenzphilosophie seine Themen aufgreifen, vor allem seinen Fokus auf den Einzelnen. Sein Werk ist aber auch ein Vermächtnis an die Gegenwart: Sören Kierkegaard hat den spirituellen Schatz der europäischen Kultur aufs Neue gehoben, indem er die Forderungen des Urchristentums wieder aus einer eigenen nahezu mystischen Gläubigkeit heraus in den Blick gerückt hat, und zwar in Opposition, ja Rebellion gegen die gesellschaftlich und institutionell befürwortete christliche Praxis. Sätze wie dies lesen sich in Zeiten neuer säkularer Glaubenskriege jedenfalls hoch aktuell: "Einen Menschen zwingen zu eigener Meinung, einer Überzeugung, einem Glauben, das kann ich in alle Ewigkeit nicht (…) Ich kann ihn zwingen, aufmerksam zu werden."

Service

Clare Carlisle, "Der Philosoph des Herzens - Das rastlose Leben des Sören Kierkegaard", Klett-Cotta

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