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Salzburger Nachtstudio
Dostojewski und die Tiefen der Menschheit
Am Ende seines Lebens wurde Fjodor Dostojewski von seinen Anhängern als Prophet und göttlich inspirierter Schriftsteller gefeiert. Heute betrachten ihn die allermeisten Literaturhistoriker als einen der bedeutendsten Autoren nicht nur Russlands, sondern der Weltliteratur insgesamt.
11. März 2021, 12:00
"Man nennt mich einen Psychologen. Das ist nicht richtig. Ich bin nur ein Realist in einem höheren Sinne, das heißt: ich zeige alle Tiefen der Menschenseele", schrieb Fjodor Dostojewski kurz vor seinem Tod in sein Notizbuch. Die Widersprüche, Konflikte und Abgründe im Inneren des Menschen waren von Anfang an ein zentrales Thema im Werk des bedeutenden russischen Schriftstellers. Schon in seiner Jugend hatte ihn die Vorrede zu Friedrich Schillers "Die Räuber" beeindruckt, in der davon die Rede ist, die Seele "gleichsam bei ihren geheimsten Operationen zu ertappen".
"So wie Dostojewskij die kulturellen Krisen Russlands und Europas im 19. Jahrhundert literarisch auf den Punkt gebracht hat, treffen seine Werke noch immer wunde Punkte unserer (post)modernen Welt: das Verhältnis von Wissen und Glauben, von Leib und Seele, von Individuum und Gesellschaft, von Gesellschaft und nationaler und transnationaler Identität, um nur einige zu nennen", erklärt der Dostojewski Biograf Andreas Guski die aktuelle Relevanz des Schriftstellers.
"Immer und in allem gehe ich bis an die äußersten Grenzen"
Dass er sein Leben der Literatur widmen wollte, stand für Dostojewski bald fest. Doch gemäß dem Wunsch seines Vaters, eines in Moskau tätigen Arztes, musste er zunächst in der damaligen russischen Hauptstadt St. Petersburg eine Ausbildung zum Militäringenieur absolvieren. Nach kurzer Tätigkeit im Staatsdienst wagte er mit 23 Jahren den Schritt ins Ungewisse: "Ein Stück Brot werde ich schnell wiederfinden. Ich werde höllisch arbeiten. Nun bin ich frei", ließ er seinen Bruder in einem Brief wissen.
Erfolg, Schulden, Flucht
Es sollte ein turbulentes Leben werden. Privat, literarisch und finanziell befand sich Dostojewski jahrzehntelang auf einer Achterbahn. Auf große literarische Erfolge folgten Werke, die von der Kritik schonungslos zerrissen wurden; fast permanente Schulden trieben ihn in die Spielsucht und zeitweise zur Flucht vor den Gläubigern nach Westeuropa.
Dazu kamen die politischen Umstände. Vier Jahre nach Dostojewskis Geburt kam es 1825 zum Dekabristen-Aufstand, in dem Adelige und Offiziere gegen das autokratische Zarenregime, gegen Leibeigenschaft, Polizeiwillkür und Zensur protestierten und grundlegende Reformen forderten. Der Aufstand scheiterte.
Wandel nach der Haft
Doch trotz verschärfter Überwachung bildete sich in der Folge eine Vielzahl sozialkritischer und revolutionärer Zirkel. 1849 wurde der Kreis, in dem Dostojewski verkehrte, ausgehoben. Nach einer Scheinhinrichtung wurde der Autor zu vier Jahren Zwangsarbeit und weiteren Jahren als gemeiner Soldat in Sibirien verurteilt. Als er 1859 nach Sankt Petersburg zurückkehrte, war mit Alexander II. ein neuer Zar an der Macht, der die Leibeigenschaft abschaffen und diverse Reformen veranlassen sollte.
Auch Dostojewski hatte sich verändert. Sozialistisches und anderes radikales Gedankengut wies er nun zurück. In den damals virulenten Debatten distanzierte er sich von den "Westlern", die eine Westorientierung des Landes verfochten, und vertrat eine slawophile Position, der zufolge Russland seinen eigenen, von Zarentum und christlich-orthodoxem Glauben geprägten Weg gehen müsse.
Glaube und Zweifel
Die menschliche Seele - mit ihren erhabenen Regungen und tiefsten Abgründen - war eines der zentralen Themen, das Dostojewski sein Leben bewegte. Schon in seinem ersten Roman "Arme Leute" eröffnet er psychologische Dimensionen, die er später in seinen großen Werken in immer neuen Facetten ausbaut. Verbrechen und der Umgang mit der eigenen Schuld spielen dabei eine gewichtige Rolle.
Der Schriftsteller war indes kein Vermittler klarer ideologischer Botschaften. Glaube und Zweifel, Suche und Scheitern, das Böse, Verbrechen und die Frage nach der Schuld und deren Eingeständnis durchziehen sein späteres Werk. Dazu zählen große Romane wie "Schuld und Sühne" ("Verbrechen und Strafe"), "Der Idiot", "Die Dämonen" und "Die Brüder Karamasow", die Dostojewski von den 1860er Jahren bis zu seinem Tod 1881 verfasste.
Angesichts der Vielschichtigkeit seiner Werke sowie seines turbulenten Lebenswegs ist Dostojewski stets von ganz unterschiedlichen Gruppen gefeiert, vereinnahmt oder zurückgewiesen worden. Auch das Jahr 2021 wird - anlässlich des 200. Geburtstags und 140. Todestags des Schriftstellers - wieder zu einer intensiven Befragung führen.
Gestaltung
- Brigitte Voykowitsch