Juan Gabriel Vásquez

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Juan Gabriel Vásquez

"Lieder für die Feuersbrunst"

Juan Gabriel Vásquez hat sich mit seinen Romanen, Essays und Kommentaren zur kolumbianischen Politik in Geschichte und Gegenwart längst einen Rang unter den wichtigsten lateinamerikanischen Schriftstellern seiner Generation erschrieben. Dass so eine Position völlig neue stilistische, thematische und literarische Freiheiten gewährt, zeigt er im aktuellen Erzählband "Lieder für die Feuersbrunst".

Es ist ein trügerisches Lesevergnügen, das uns Juan Gabriel Vásquez hier beschert: So leichtfüßig und fast belanglos die neun Kurzgeschichten daherkommen, so tief und gefährlich ist der Abgrund hinter den kleinen Gesten und scheinbar zufälligen Bemerkungen. Da rückt in der Erzählung "Frau am Ufer" eine Angestellte bei Tisch unmerklich ein paar Zentimeter von ihrem Chef ab und erst ein paar Seiten und Jahre später wird deutlich, dass es einer der vielen symbolischen Fluchtversuche vor seinen gewaltsamen sexuellen Übergriffen war.

Wer unachtsam ist, fliegt raus

Wer solche kleinen Gesten geflissentlich überliest, muss mit unbefriedigender Ratlosigkeit an den Anfang der Geschichte zurückkehren. Doch allmählich beginnen sich die Sinne zu schärfen für die vielen unaufdringlichen Hinweise auf unterschiedliche Formen der Gewalt, die die jüngere kolumbianische Geschichte durchtränkt und sich in die Gesichter der Menschen eingeschrieben haben.

Juan Gabriel Vásquez: "Das reicht von den persönlichen, intimen Folgen sexueller Aggression über die große politische Gewalt in Kolumbien der 1950er Jahre bis hin zum Drogen-Terrorismus in Bogotà. Meine Generation hat gelernt, mit ihm zu leben, aber er hat in uns gewisse Narben hinterlassen."

Zwischen Küche, Parlament und Bandenkrieg

Rein persönliche Themen interessieren ihn als Autor schon lange nicht mehr. Viel lieber widmet er sich den Kreuzungspunkten zwischen dem Einzelschicksal und den großen historischen und politischen Ereignissen.

Das hat Vásquez mit Romanen wie "Das Geräusch der Dinge beim Fallen" oder "Die Gestalt der Ruinen" eindrucksvoll vorexerziert und das zeigt er nicht weniger eindrucksvoll in den aktuellen Erzählungen, die so deutlich wie nie auf frühere Werke und autobiografische Stationen des Schriftstellers Bezug nehmen. Jede für sich birgt Stoff für einen eigenen Roman und ist doch bewusst in die kurze Form gegossen.

Buchumschlag

SCHÖFFLING & CO

Vorsicht, zerbrechlich!

"Die Erzählung fängt ganz kurze Momente der Emotionen, Erkenntnisse und Enthüllungen ein, die so fragil sind, dass sie uns sofort entwischen würden, wenn wir versuchten, sie in einen Roman zu bringen", so der Autor. Und er fügt hinzu: "Es ist, als wollte man Sardinen mit einem Walfangnetz fischen."

Diese Zerbrechlichkeit steht im Zentrum aller Erzählungen, die zwar jeweils unterschiedliche Themen, Figuren und Schauplätze aufweisen, aber trotzdem so miteinander verwoben sind, dass sie am Ende ein Ganzes ergeben: "Wie ein Roman, bei dem sich die Figuren untereinander nicht kennen", so Vásquez.

Was man von Kurzgeschichten (nicht) erwartet

Neu ist die Experimentierfreude, mit der Juan Gabriel Vásquez an die Texte herangeht. Zum Beispiel, wenn er in der Erzählung "Die Frösche" mitten im Dialog zwischen Gegenwart und Erinnerung hin und herwechselt, und eine Frage aus der Vergangenheit 50 Jahre später in der Gegenwart beantworten lässt - freilich nur mit einem Blick, der sich vom Damals ins Heute fortsetzt. Oder, wenn sich in der titelgebenden letzten Geschichte Autofiktion, Essay und historischer Roman vermischen.

Für den Autor ist das eine logische Weiterentwicklung 17 Jahre nach seinem Erzähldebüt "Die Liebenden von Allerheiligen": Nach 20 Jahren intensiver Beschäftigung mit dem Genre beginnt man zu experimentieren und sich gewisse Freiheiten herauszunehmen. Deshalb sind die Erzählungen alle so unterschiedlich. Aber die letzte, "Lieder für die Feuersbrunst" geht wirklich fast respektlos mit der Gattungstradition um. Sie steckt voller unterschiedlicher Themen und Textsorten, nimmt sich alle Freiheiten und setzt sich über alle möglichen Regeln hinweg. Und am Ende war ich richtig zufrieden damit."

So zufrieden, dass er bereits an eine Fortsetzung denkt - eine äußerst erfreuliche Perspektive.

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Juan Gabriel Vásquez: "Lieder für die Feuersbrunst", Erzählband, Schöffling

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