GEMEINFREI
"Liebe und Läuse" von Barbara Pumhösel
"Venus kämmt Amor" ist der Titel eines Gemäldes, von dem Barbara Pumhösel seit ihrer Studienzeit fasziniert ist. Das Bild hängt in der Galleria Palatina im Florentiner Palazzo Pitti. Es stammt von Giovanni Mannozzi, der sich Giovanni da San Giovanni nannte, und von 1592 bis 1636 in Italien lebte. Die Ö1 Erstveröffentlichungsreihe "Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren.
21. März 2021, 05:00
Der Kamm ist vorhanden - klassisches Attribut jeder Schönheitsgöttin - doch die Handhabung ist eigen, wenn auch nicht ganz unbekannt. Ebenso das Format. Der Gedanke ist ein Wagnis inmitten all dieser hochgeistigen Kunstwerke, doch ja, es ist ein Läusekamm! Die Position der Hand ist suchend, die Finger halten den Blick frei auf die Kopfhaut, biegen dabei den Kopf des Kindes sanft, aber bestimmt, nach unten.
In der Galleria Palatina im Palazzo Pitti hängen die Gemälde noch heute so, wie es dem Geschmack der Zeit und dem Willen der großherzoglichen Sammlerpersönlichkeiten entsprach: dicht an dicht, in mehreren Reihen, und wechselnden dekorativen Kriterien folgend. "Wie Kraut und Rüben", höre ich in einer Besuchergruppe neben mir jemanden auf Deutsch sagen. Viel zu viel auf einmal, für unsere heutigen ästhetischen Begriffe, obwohl wir doch eigentlich mehr an Reizüberflutung gewöhnt sind, als die Betrachtenden und Sammelbegeisterten voriger Jahrhunderte.
HELMUT LACKINGER
Geboren 1959 bei Scheibbs in Niederösterreich, fand Barbara Pumhösel inzwischen ihren Lebensmittelpunkt in der Nähe von Florenz. Neben verschiedenen Lyrikpublikationen hat sie zahlreiche italienischsprachige Kinderbücher veröffentlicht, und sie ist Übersetzerin u.a. von Nicola Pugliese und Marilina Giaquinta.
Ich bin Studentin in den ersten Semestern, meine kunsthistorische Bildung bewegt sich auf unterem Mittelschulniveau. Ich ziehe durch die Säle der Galleria, bleibe nur ein paarmal zögernd stehen, immer in der Mitte des Raumes, und schaffe es kaum, mich auf ein einzelnes Bild zu konzentrieren. Es sind einfach zu viele, kaum ein Flecken weißer Wand ist zwischen ihnen sichtbar.
Auf jeden Fall erwarte ich mir etwas, etwas vielleicht am Anfang distanziert Theoretisches, über meinen Kopf Hinwegflutendes. Als nächstes, so hoffe ich, würde mich eine Art von Verständnis durchdringen, ein osmotisches Einatmen kraft einer geheimnisvollen kunstdidaktischen Automatik.
Ich habe vor, mich auf einzelne Etappen, auf gewisse Stationen zu konzentrieren, wie es die Kunstführer immer wieder empfehlen. Es bleibt an diesem Vormittag auch tatsächlich bei einem einzigen Saal, dem Saal der Allegorien. Dort zwingt mich ein Bild zum Stehenbleiben. Mein Blick hat sich verfangen, ist hängengeblieben, der Kopf versucht zu entziffern, was er unter dem Belag der Jahrhunderte und der verschiedenen Restaurierungen sieht. Das Gemälde hieß "Venere in atto di pettinare Amore". Nach der Restaurierung wurde der Titel etwas vereinfacht: "Venere pettina Amore", "Venus kämmt Amor". Der Künstler, Giovanni Mannozzi, bekannt als Giovanni da San Giovanni, benannt nach seinem Geburtsort im oberen Arnotal, hat die Pestzeiten überlebt ohne sich anzustecken, obwohl die in Norditalien wütende Seuche sich langsam und konstant auch im Großherzogtum der Toskana ausbreitete.
JAN FRANKL
Silvia Meisterle, geboren 1978 in Wien, wuchs in Perchtoldsdorf auf. 2008 debütierte sie am Theater in der Josefstadt, seit 2010 ist sie festes Ensemblemitglied. Ö1 Hörerinnen und Hörern ist ihre charismatische Stimme aus ungezählten Literatursendungen vertraut.
Geboren am Ende des 16. Jahrhunderts, wurde Giovanni da San Giovanni in Florenz ausgebildet, und war ab 1617 Hofmaler der Medici. Sein letzter großer Auftrag war die Freskomalerei des heute nach ihm benannten Saales im Erdgeschoss des Palazzo Pitti. Nach seinem Tod wurde diese von seinen Schülern und von befreundeten Malern vollendet.
Bei meiner ersten Begegnung mit seinem Bild "Venus kämmt Amor" sind dessen Farben noch gedämpft, überzogen von jener trüben Patina mehrerer verdunkelnder Schichten. Trotzdem trifft der Anblick mich wie ein Blitz, wie den Apostel Paulus die Offenbarung auf dem Weg nach Damaskus. Etwas springt sofort über, wirft ein unsichtbares, elastisches Netz über mich. Seither kann ich mich von diesem Bild entfernen, sodass ich seinen Sog, seinen Einfluss auf mich kaum spüre. Aber dann plötzlich: ein Stichwort irgendwo, in einem Gespräch, in den Medien, und das Netz wird wieder straffgezogen. Dann stehe ich wieder wie damals mit offenem Mund im Saal der Allegorien des Palazzo Pitti.
Dieses Mal jedoch nur in meiner Vorstellung, denn - CORONA CORONA CORONA! - wir sind mitten im Lockdown, wie wir das alle so schön auf Englisch sagen. Auch das Italienische hat kein spontan über die Lippen kommendes Wort für diese Art von Hausarrest, der vielerlei unterbindet und anderes in Fragmente zerlegt, der uns nur noch einen Teil unseres Lebens zugänglich macht. Die Pandemie ist allgegenwärtig, färbt auf jede Kommunikation ab, beeinflusst alle Pläne, unterbricht Gedankenflüsse und verzweigt sie in einzelne Rinnsale. Ich kann mich nicht konzentrieren. Trotzdem, von jedem Gedankenbruchstück führt ein Weg, ein unterirdischer Gang zu einem anderen, jedes Puzzle lässt sich wieder zusammenbauen. "Tutto è connesso" heißt es, "Alles ist in Verbindung". Weisheit, Versprechen, Gebetszeile? Ein geflügeltes Wort, das immer wieder auftaucht, in der Philosophie der Antike, in der Renaissance, als Name eines Kunstwerks, als Grußwort, und sogar in einer päpstlichen Enzyklika.
Als Giovanni da San Giovanni seine etwas andere Version des vielbemühten Venus-und-Amor-Motivs malt, hat er die Pestjahre noch vor sich. Aber ist es nicht trotzdem eine Art von Epidemie, die sogar die Götter nicht ungeschoren lässt? Oder sind es einfach nur ein paar Läuse im Lockenwald des kindlichen Amor? Tatsache ist, die Liebesgöttin Venus sucht Läuse, widmet sich dieser Aufgabe mit Konzentration und Hingabe. Es ist eine Neuinterpretation des klassischen Themas, ein augenzwinkerndes Miteinbeziehen der Betrachtenden, die nicht die Möglichkeit hatten, die antiken Mythen zu studieren, die aber mit jedem Aspekt der häuslichen Pflege vertraut waren. Ein Bild der Gegensätze. Das Werk wurde zuweilen auch unter dem Titel "Cura materna", "Mütterliche Pflege" erwähnt. Das Spiel des Malers mit vermeintlichen Kontrasten und Widersprüchen ist kein zufälliges: "cura" und "cultura" - auch im Sinn von "Landbau", "coltura" - lassen sich auf dieselbe lateinische Wurzel zurückführen. In der Landschaft verdünnt sich das Virus, verflüchtigt sich im wahrsten Sinn des Wortes, in dem einen und auch in dem anderen, dem übertragenen. Es ist so viel einfacher, Abstand zu halten, wenn weit und breit niemand zu sehen ist, in Wald und Flur - wenn die Gedanken abweichen, Abzweigungen nehmen und hinter den Bäumen verschwinden; wenn die Maske nicht nur unters Kinn gekippt werden kann, sondern gleich in der Jackentasche verschwinden darf; wenn in den nächsten Viertelstunden keine epidemiologischen Kurven vor dem inneren Auge auftauchen; wenn der Geist ausfliegen und sich frei zwischen den Baumstämmen oder irgendwo im Unterholz bewegen darf.
Auch Giovanni da San Giovanni weiß die Möglichkeiten, die ihm die Natur bietet, zu schätzen. Er zieht sich in die Gegend zwischen Monsummano Terme und Pistoia zurück, aufs Land, und verdient sich seinen Lebensunterhalt durch Freskenmalereien, arbeitet in Privatkapellen und Landkirchen. Giovanni da San Giovanni und seine Zeitgenossen können auf eine lange soziale Pandemieerfahrung und Überlieferung zurückblicken: Pest im 14. Jahrhundert, Pest im 15. Jahrhundert und auch im 16. Jahrhundert. Dante und sein Zeitgenosse Boccaccio, dem die Pest die Rahmenhandlung für sein Decamerone liefert. Petrarca: dreißig Jahre seines Lebens waren Pestjahre. Laura: seine Muse, starb an der Pest, ebenso sein zwanzigjähriger Sohn Francesco und einige seiner engsten Freunde.
Kindheit und Alter, Liebe und Tod. Alltag und Feste, das am Hungertuch nagende Fußvolk und die Befehlshaber hoch zu Ross. Das Kontrollieren der Kopfhaut ist eine Geste der Fürsorge, un gesto di cura, die Läuseplage eine Epidemie, über die man scherzen konnte, um andere, schrecklichere zumindest aus den Gedanken fernzuhalten, ihnen Einhalt zu gebieten durch ein Spiel mit Motiven und Figuren aus einer mythologischen Welt. Im Leben der Handwerker, Dienstboten, Leibeigenen, Taglöhner und Pilger jeglicher Herkunft sind die flügellosen Insekten Teil des Alltags. Eine wochen- oder sogar monatelange Pilgerreise zum Beispiel, bei all den provisorischen Unterkünften, immer wieder benützten Strohlagern und mangelnden Waschmöglichkeiten, ist nicht denkbar ohne Läuse. Doch manch eine, manch einer wird gedacht haben: Besser Läuse als die Pest!
Die Pest war immer eine große Metapher. Die Läuseplage im Vergleich dazu eine minimale, sie wurde den sogenannten unteren, den ärmeren, schwer arbeitenden Schichten zugeschoben, den einfachen Soldaten im Schützengraben, den Gefangenen in den Lagern. Die reichen Bürger und die Adeligen hatten ihre Schoßhündchen, die dank der höheren Körpertemperatur Läuse und Flöhe anzogen, und so ihre Besitzer und Besitzerinnen von ihnen befreiten.
Ja, die Armen hatten Läuse, so viel sie sich auch bemühten, die ausgewachsenen Exemplare zwischen den Daumennägeln zu zerdrücken, und befallene Haare mitsamt den Nissen ins Feuer warfen. Sowohl die Reichen als auch die Armen versuchten der Pest auszuweichen, die Reichen hatten mehr Möglichkeiten, sich im Lockdown zu amüsieren, damals wie heute. Boccaccio bestätigt es uns für das Frühjahr und den Sommer des Jahres 1348 im Decamerone, vom Heute erzählen die zahlreichen Corona-Tagebücher.
Ich stelle mir vor, in der Zeit unseres Malers Giovanni da San Giovanni zu leben, am Beginn des 17. Jahrhunderts. Ich bin ein zehnjähriges Mädchen und stehe in einer Bottega vor der Staffelei. Ich bin hier, um im Namen meines Dienstherrn die Hasenfelle abzugeben, oder vielleicht einen schon fertig zubereiteten Hasenleim - la colla di coniglio. Die Nachfrage in Florenz ist groß, überall wird der Leim gebraucht für die Präparierung der Leinwand. Ich warte und nütze die paar Minuten, um einen Blick auf das Gemälde zu werfen. Meine Beine schmerzen, eine Blase an der Ferse hat sich entzündet. Die Schuhe sind zu groß, ich bin schon seit Stunden unterwegs, mein Arbeitstag dauert vom Sonnenaufgang bis tief in die Dunkelheit, so lang, bis mich jemand schlafen schickt. Der Holzschemel ein paar Schritte weiter zieht mich unwiderstehlich an, und ich denke, das darf ich nicht. Setze mich aber einfach nieder, betrachte das Kind auf dem Bild, und seine schöne Mutter. Die Zeit steht still und ich verstehe die Botschaft: "Es ist nicht schlimm, Läuse zu haben, das ist Alltag, das kommt vor, und es steht nicht in deiner Macht, dich zu schützen, nicht einmal, wenn du Flügel hast wie das Kind auf dem Bild. Doch es ist schlimm, niemanden zu haben, der für dich da ist, der dir deinen Kopf kontrolliert, wenn es notwendig ist."
Giovanni da San Giovanni hofft, sich der Pandemie zu entziehen, indem er Aufträge abseits der großen Handels- und Pilgerwege annimmt, wo die Ansteckungsgefahr geringer ist. Die Geschichte bestätigt diese Hoffnung im Nachhinein, wiewohl für unseren Maler nur von relativer Bedeutung, da er einige Jahre danach, ohne von der Pest heimgesucht worden zu sein, sechsundvierzigjährig an einer damals nicht zu behandelnden Stoffwechselerkrankung stirbt.
Nach der Restaurierung besuche ich die Venus und ihr Kind noch einmal. Das rote Kleid strahlt jetzt in heller Pracht, der Allerwerteste des Liebesgottes fängt das Licht ein, und ich ertappe mich dabei, mich zu fragen, ob mit den abgetragenen Schichten auch die vielleicht in den Ölfarben hausenden Tierchen verschwunden sind. Oder ob diese, dank der Reinigung des Gemäldes, nun sichtbarer geworden sind, wie die durch den Kamm freigelegten Pfade zwischen den göttlichen Haarlocken? Jetzt wäre eine Lupe angebracht. Ob der Künstler wohl eine solche hatte? Ob das Bild etwas verbirgt? Ob es Kratzbedürfnisse bei den kunstsensiblen und empathischen Besuchern und Besucherinnen auslöst? Das nackte Hinterteil des göttlichen Kindes ist ziemlich genau das Zentrum des Bildes, hat also seine Bedeutung, hier bleibt der Blick des Betrachtenden zuerst haften. Amor, oder Eros, kann gar nicht ausweichen, denn seine resolute Mutter hält ihn zwischen ihren Schenkeln fest, damit er ihr nicht davonfliegt, während sie ihre Präzisionsarbeit verrichtet.
Was will uns dieser kindliche Gott über die Liebe sagen? Das weltbewegende Gefühl, das in den Sonetten des 17. Jahrhunderts so formvollendet besungen wird, zeigt hier seinen lausigen, terrestrischen, alltäglichen Aspekt: auch Amor entkommt den Läusen nicht. Die Flügel tragen nicht immer, sind manchmal so kümmerlich wie sie aussehen - mickrig, nicht stark genug selbst für den leichten Körper eines Kindes. Die Pfeile im daneben abgestellten Köcher hingegen sehen sehr stabil aus, nicht biegsam genug, zu groß für das Kind, und hinderlich bei jeglichem Flug.
Auch uns ist kein Abheben möglich. Die Bilder in den Museen sind nur online zu betrachten.
Wir halten den Atem an, und warten:
Redaktion: Edith-Ulla Gasser