Cowboyhut in der Luft

AP/RICH FURY

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Stack O’Lee, Stagolee, Stagger Lee

Musikalische Apotheose eines Mörders.

Fast immer wird ihm der kaltblütige Mord an einem gewissen Billy angelastet. Sehr oft spielt dabei ein Hut der Marke Stetson eine Rolle. Häufig wird berichtet, dass er von Billy beim Glücksspiel betrogen wurde. Manchmal ist er auch ein Frauenheld.

Nicht selten erschießt er neben Billy noch weitere Menschen. Bisweilen bleibt er unbesiegbar, andere Male wird er von der Polizei gefasst, fallweise auch gehenkt. Und gelegentlich nimmt er es nach seinem Tod sogar noch mit dem Teufel auf: Stack O’Lee, Stagolee, Stagger Lee … Auch sein Name variiert in den Aberhundert Songs, die über ihn gesungen wurden und immer noch werden. Konstant bleibt nur das Bild vom unerschrockenen schwarzen Gewalttäter.

Eine reale Begebenheit

Schon aus den 1890er Jahren sind Lieder über ihn belegt. 1923 begann seine glanzvolle Karriere auf Tonträger, die 1959 im Nummer-eins-Hit von Lloyd Price gipfelte. Aber erst 1976 konnte anhand von historischen Zeitungsberichten und Polizeiakten belegt werden, dass dem Mythos von Stagger Lee eine reale Begebenheit zugrunde liegt.

Am Weihnachtsabend 1895 kam es in einem Saloon in St. Louis, Missouri, zwischen den Afroamerikanern Billy Lyons und "Stag" Lee Shelton zu einem Streit, im Zuge dessen Shelton Lyons’ Hut beschädigte. Als der sich daraufhin Sheltons Hut schnappte und sich weigerte, ihn zurückzugeben, schoss ihm Shelton mit seinem .44er-Revolver in den Bauch, nahm seinen Hut und ging. Lyons erlag wenig später seinen Verletzungen.

Grund des Streits war Politik

Shelton wurde verhaftet und 1897 zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt, aber bald wieder freigelassen. Später musste er erneut einsitzen, diesmal aber wegen Raubes. Er starb am 11. März 1912 in einem Gefängnisspital in Jefferson City an Tuberkulose.

Grund des Streits war Politik. Shelton war im Gegensatz zu Lyons Unterstützer der Demokraten - eine Ausnahme unter Afroamerikanern, die damals in Loyalität zu Abraham Lincoln traditionell republikanisch wählten. Und so gab es auch immer wieder Petitionen für oder gegen seine Freilassung durch politisch einflussreiche Unterstützer auf beiden Seiten. All das hat aber keinen Widerhall in den Songs gefunden, während sich Details wie die Namen, der Hut oder der 44er-Revolver über die Jahrzehnte erstaunlich genau gehalten haben.

Rasche Verbreitung

Die Legendenbildung rund um Stagger Lee war ein rein afroamerikanisches Phänomen und begann mit Ragtime-Songs und Balladen, die über Bordelle und Haftanstalten rasche Verbreitung im US-amerikanischen Süden fanden. Und mit hoher Wahrscheinlichkeit hat Lee Shelton manche dieser Songs bereits gehört.

Wie aber konnte es sein, dass in so kurzer Zeit aus einem einzelnen Mord ein solcher Mythos entstanden ist, der dann die gesamte US-amerikanische Populärkultur des 20. Jahrhunderts durchdrungen hat? Und warum wurde genau dieser "Stag" Lee hochstilisiert zum Archetypus des kaltblütigen schwarzen Gangsters, wie er heute noch im Hip-Hop zu Hause ist? Vermutlich viel Zufall und ein besonders griffiger erster Song in Kombination mit der Faszination der Selbstermächtigung unter jenen, die die weiße Gesellschaft systematisch ausgesperrt hat - der besungene Bösewicht als virtuelle Projektionsfläche nie ausgelebter Machtfantasien.

Da waren für die Apotheose eines schwarzen Mörders auch keine hehren Motive nötig wie bei typischen weißen (Anti-)Helden. Aber es war wohl essenziell, dass auch das Opfer ein Schwarzer war. Und so glaubt man diesen "bad motherfucker called Stagger Lee" (© Nick Cave) nach dem tödlichen Schuss auch noch in Pulp-Fiction-Manier sagen zu hören: "Gimme my hat, Nigger!"

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