Schmetterlingflügel, Ausschnitt des Buchcovers

HANSER VERLAG

Roman von James Scudamore

"English Monsters"

Von sexuellem Missbrauch, sanktionierter körperlicher Gewalt und dem Empathie-befreiten System an einem britischen Internat erzählt der Engländer James Scudamore in seinem Roman "English Monsters".

"Zwei Jungs wurden dabei erwischt, wie sie den Schulkormoran mit Leinöl einschmierten." Ein sichtlich erregter Schuldirektor, gespielt von John Cleese, unterbricht mit diesen Worten im Monty-Python-Film "Der Sinn des Lebens" einen Schulgottesdienst. Die Messe war bereits vor dieser Stelle in bester Monty-Python-Manier absurd. Die britische Komikertruppe verstand es, Heuchelei zu parodieren und die richtigen Knöpfe zu drücken. Vom Streich am Schulmaskottchen geht der Direktor danach nahtlos dazu über, einem kleinen Internatsschüler mitzuteilen: "Und, Jenkins, deine Mutter ist offensichtlich heute Morgen gestorben." Und weiter geht der Gottesdienst.

James Scudamore hat das Schulkormoran-Zitat seinem neuen Roman "English Monsters" vorangestellt - nur diesen einen, für sich genommen arglosen Satz. Das Buch aber ist so wenig arglos wie die Sketche der britischen Truppe. "English Monsters" handelt von den Nachbeben von sexuellem Missbrauch, sanktionierter körperlicher Gewalt und dem Empathie-befreiten System an einem britischen Internat.

Züchtigung an Schulen 1986 verboten

Scudamore beginnt seinen Roman im Jahr 1986, dem Jahr, in dem körperliche Züchtigung an öffentlichen Schulen in Großbritannien per Gesetz verboten wird. Der zehnjährige Max Denyer wird von seinen Eltern - zwei sozialen Aufsteigern aus den englischen Midlands, die berufsbedingt in Mexiko weilen - auf Firmenkosten ins britische Internat geschickt. Die Schule ist privat, fällt nicht unter die neue Gesetzeslage, die Uhren gehen hier anders. Max ist der Willkür und Brutalität der Lehrer ausgeliefert. Würde in dieser Schule einer das Maskottchen mit Leinöl übergießen, könnte er seine rechte Hand eine Woche lang nicht benützen. Später gibt Max einer Freundin einen Abriss seiner Internatszeit:

"Und los ging's. Die Ankunft bei Eiseskälte. Zähne putzen im Schnee. Gewalt erfahren. Die kleinen Tricks, wie wir durchgehalten und triumphiert hatten. Vor allem der schiere Anachronismus, dass so etwas vor noch gar nicht so langer Zeit passiert war, machte sie fassungslos. Das Gefühl, die letzte Generation zu sein, die eine bestimmte Art von Engländertum erlebte."

Voraussetzung für kriminelles Handeln

Der Autor James Scudamore wurde 1976 geboren. Er ist damit derselbe Jahrgang wie sein Protagonist Max und dessen drei Freunde Simon, Ish und Luke, deren Geschichte Scudamore über einen Zeitraum von 30 Jahren hinweg erzählt. Dem Roman ist anzumerken, dass der Schriftsteller, dessen frühere Bücher überwiegend an exotischen Orten spielen, dieses Mal besonders "close to home" schreibt. Er erlebte die Art von "Engländertum" selbst als Schüler einer privaten "Prep-School" - also einer jener Schulen, die die Kinder der britischen Upper Class für klingende Ausbildungsstätten wie Eton und auf ihre zukünftigen glänzenden Karrieren vorbereiten sollen.

Scudamore hat über seine Internatserfahrungen im vergangenen Jahr auch einen Essay mit dem Titel "The dark side of boarding school" veröffentlicht. In ihm führt er das Verhalten der regierenden Elite Großbritanniens, darunter Name wie David Cameron oder Boris Johnson, auf ihre Erziehung zurück. Mit ihrem Überlegensheitsgefühl würde diese Politikerkaste den Verlust der Kindheit und Empathiefähigkeit kompensieren, schreibt Scudamore.

Analyse aus nächster Nähe

Die Suche nach Erklärungen in der Privatschul-Vergangenheit für die Politik der aktuellen Staatslenker ist kein ganz neuer Gedanke, britische Zeitungen arbeiteten sich in den vergangenen Jahren rund um die Frage der Brexit-Verantwortung öfters daran ab. Mit James Scudamore schreibt dieses Mal allerdings einer, der die Zustände in solchen Schulen aus nächster Nähe analysieren und den dunklen Stoff zu einem souveränen Roman transzendieren kann.

In weiten, scheinbar mühelos gezogenen Handlungsbögen zeichnet er die Nachwirkungen körperlichen und sexuellen Missbrauchs nach - so funktioniert seine Geschichte ganz unabhängig davon, ob die Lesenden mit dem britischen Bildungs-Klassensystem vertraut sind.

Ein pervers-sadistische Drillmeister

Zu Beginn ist da die Runde Zehnjähriger, deren Erlebnisse sich mit Schulmythen, Halbbewusstem und am Rande Wahrgenommenem vermischen, überstrahlt wird alles von der Angst vor dem Geschichtelehrer Eric Weathers-Davis. Dem ehemaligen Soldaten mit der Pilotenbrille eilt der Ruf voraus, dass er Schüler gerne Treppen hinunterstößt und mit Schuhen und Stöcken schlägt. Ein Ruf, den er mit sadistischer Freude kultiviert.

"Max Denyer." Er geht neben mir in die Hocke. Seine Stimme flüstert mir ins Ohr: "Bist du das? Denk daran auszuatmen, wenn du abdrückst. Entspann dich." Er legt sich links von mir bäuchlings auf den Boden, blickt am Gewehrlauf entlang. Seine kratzige Wange reibt an meiner. Kaffeeatem. Alter Schweiß. "Du solltest dich konzentrieren können, ohne dich von irgendetwas ablenken zu lassen", sagt er. Sein Arm langt über meine Schulter, dann spüre ich, wie etwas Kaltes gegen meine rechte Schläfe drückt, und begreife, dass es der Lauf seiner Luftpistole ist.

… Der Schaft rutscht ab, als ich schieße, und ich weiß, dass die Mündung zu tief gesunken ist. "Zu nichts zu gebrauchen." Er springt auf, spreizt die Beine und feuert über meinem Kopf eine Kugel mitten in mein Ziel.

Buchumschlag

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Schweigen und Verdrängen

Der pervers-sadistische Drillmeister Waethers-Davis ist, wenn man so will, der plakativste Bösewicht des Buchs, und damit von Anfang ein zu offensichtlicher. Je weiter die Handlung nun fortschreitet und sich von den Erlebnissen in der Schulzeit entfernt - Scudamore erzählt in etwa 10-Jahres-Schritten - desto stärker wird sie.

Der Roman benötigt die 450 Seiten, die er in der deutschen Übersetzung hat: Erst auf dieser Länge können die Mechaniken von eingespieltem Schweigen und Verdrängen ihre Wirkung zeigen. Nach und nach wird sichtbar, wo und wie das Vertrauen hinter geschlossenen Türen von Eltern und Lehrern gebrochen wird, wo die Freundesbande halten und wo sie versagt haben - und wo diese durch ihre Schulzeit aneinandergebundene Runde mit dem Verstreichen der Jahre wie durch einen Rückspiegel auf immer mehr Entscheidungen, aber auch auf nicht ergriffene Möglichkeiten zurückblickt.

Energieumwandlung

James Scudamore hat seinem Roman neben dem Monty-Python-Zitat den Energieerhaltungssatz aus der Physik vorangestellt. Er lautet:

Energie kann weder erzeugt noch vernichtet werden; sie kann lediglich von einer Form in eine andere umgewandelt werden.

Mit dieser physikalischen Gewissheit arbeitet Scudamore in eleganten Bögen auf ein Ende hin, das sich abseits von Vorhersehbarkeiten und Klischees abspielt. Die Energie sucht sich bei allen in "English Monsters" versammelten Figuren ihre Wege - und Auswege.

Service

James Scudamore, "English Monsters", Roman, Übersetzung: Ulrike Wasel, Klaus Timmermann, hanserblau

Gestaltung

  • Antonia Löffler

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