KUNSTSAMLUNG UND ARCHIV, UNIVERSITÄT FÜR ANGEWANDTEN KUNST WIEN
"Meine Gedanken werden Dir folgen!"
Margarete Schütte-Lihotzkys Briefe aus dem Gefängnis
Ein Karton mit Briefen ist im privaten Nachlass der Architektin Margarete Schütte-Lihotzky aufgetaucht, in ihrem Ferienhaus in Radstadt. Briefe, die sie und ihr Mann, der Architekt Wilhelm Schütte sich in den Jahren 1941 bis 1945 geschrieben hatten. Beide waren Kommunisten und im Widerstand gegen die Nazis aktiv. Er war damals im Exil in der Türkei; sie im Gefängnis in Wien und dann im Zuchthaus in Aichach in Bayern.
18. Oktober 2021, 02:00
Der Kulturwissenschaftler und Architekturhistoriker Thomas Flierl hat den bisher unbekannten Briefwechsel aufgearbeitet, mit Kommentaren versehen und als Buch mit dem Titel "Mach den Weg um Prinkipo, meine Gedanken werden Dich dabei begleiten!" herausgebracht.
Du unterstützt mich, mach was aus deinem Leben, genieße es und berichte mir davon
"Ich war acht Monate in Einzelhaft und über ein Jahr da in der Schiffamtsgasse. Da waren wir alle in Einzelhaft im vierten Stock und rechts und links waren Genossinnen. (…) Mit der Hedi Urbach war ich ein ganzes Jahr Zelle an Zelle. Und da haben wir durchs Klosett alles miteinander besprochen. Jeden Brief, den man bekommen hat. Es war selten genug. Oder wenn man einen Besuch gehabt hat", erinnerte sich Margarete Schütte-Lihotzky im Gespräch mit Peter Huemer 1994 an ihre Gefangenschaft in Wien. Im Jahr 2000 ist sie 102-jährig verstorben.
Wilhelm Schütte im Schatten seiner Frau
Wilhelm Schütte - so eine Erkenntnis der neuen Forschung - spielte in der Widerstandsbewegung eine größere Rolle als bisher bekannt. Er stand in Kontakt mit den Briten und habe an der Formulierung der Position der Briten und damit der Alliierten zur staatlichen Existenz von Österreich nach dem Krieg mitbeigetragen, berichtet Thomas Flierl. Der seltene Fall eines Architektenpaares, bei dem der Mann - in der historischen Forschung - im Schatten der Frau verbleiben sollte.
"Natürlich waren sie vom Temperament auch sehr unterschiedlich", so Thomas Flierl. "Er war sehr viel introvertierter, vielleicht intellektuell-mystischer und zurückhaltender. Und sie war sehr nach außen gerichtet und war in der Lage, auch größere Öffentlichkeiten zu beeindrucken. Und das haben ja auch alle erlebt und geschätzt. Ich nehme an, dass diese unterschiedlichen Lebensgeschichten in dem Nachkriegs-Österreich und Nachkriegseuropa nicht gleichermaßen wertgeschätzt werden konnten."
Von Frankfurt über die Sowjetunion in die Türkei
Margarete Lihotzky war eine der ersten Architekturabsolventinnen und gilt daher als erste Architektin Österreichs. Ihren Mann Wilhelm Schütte lernte sie in Frankfurt kennen, wo beide am Hochbauamt arbeiteten und mit sozialem Wohnbau ihre städtebaulichen und architektonischen Vorstellungen zu verwirklichten suchten. Nach einem Arbeitsaufenthalt in der Sowjetunion und auf Einladung des des Architekten Bruno Taut kamen sie 1938 nach Istanbul. Dort wollten sie - als ausländische Experten - zur Modernisierung des Landes im Rahmen der kemalistischen Reformen beitragen.
Im Umfeld des Architekten Clemens Holzmeister etablierten Schütte-Lihotzky, Herbert Eichholzer und andere Architekten im Widerstand eine Auslandsgruppe der KPÖ. Im 1994 von Peter Huemer geführten Gespräch erinnert sich die Architektin: "Eine Gruppe von Menschen, die gegen die Nazis waren. Wir haben Zusammenkünfte gehabt. Wir haben politisch diskutiert, haben viel gelesen. Wir haben kleine Referate unter uns gehalten. Und in dieser Gruppe habe ich dem Herbert Eichholzer eines Tages gesagt: 'Du, ich bin doch sehr geeignet, wenn ihr jemanden braucht. Ich bin keine Emigrantin, keine Jüdin', denn ich bin keine Emigrantin gewesen, weil ich ja schon lange vor Hitler weg bin. 'Also, ich bin sehr geeignet, wenn ihr eine Verbindung einmal mit dem Land hier braucht. Ich bin dazu bereit.' Und so ist es dann dazu gekommen."
Festnahme in Wien
Ihr Mann Wilhelm war dagegen, dennoch reiste Margarete Schütte-Lihotzky kurz vor Weihnachten 1940 über Zagreb nach Wien. Offiziell, um ihre Schwester Adele zu besuchen; tatsächlich jedoch um eine Botschaft in den kommunistischen Widerstand zu übermitteln. Von einem von der Gestapo infiltrierten Spitzel verraten, wurde sie am 22. Jänner 1941 verhaftet und inhaftiert.
Die ersten Briefe aus dieser Zeit schrieb ihr Mann Wilhelm noch ohne Kenntnis, was Margarete beim geheimen Einsatz in Wien widerfahren war - "25 Tage illegaler Arbeit" nannte sie ihn später in ihren "Erinnerungen aus dem Widerstand". Die Sorge um ihr Wohlergehen prägt seine folgenden Nachrichten, hatte sie doch gesundheitliche Schwierigkeiten. Zur Aufmunterung berichtet Wilhelm sehr lebhaft über seinen Alltag in der Türkei, wie es den Katzen geht, welche Ausflüge er gemacht hat und was sich beruflich tut. Die Lebensrealitäten der beiden waren vollkommen entgegengesetzt, meint Thomas Flierl: sie in der Gefangenschaft mit drohender Hinrichtung, er als Architekturprofessor in Istanbul mit - zumindest eine Zeitlang - positiven Berufsaussichten: "Das ist ganz bewundernswert, wie stark Margarete darauf reagiert und wie intensiv Wilhelm seine beruflichen Erfahrungen, auch seine Exkursionsreisen, durch die Türkei ihr schildert und sie damit am Überleben hält, am Leben hält mit der Teilhabe an seinen beruflichen Erfahrungen. Das ist ganz bewundernswert zu lesen. Und man sieht natürlich auch einen Bildungsquerschnitt durch bürgerlich humanistisch gebildete, politisch Links stehende Leute im Widerstand. Man bekommt da einen sehr interessanten Einblick, was der kulturelle, literarische und ästhetische Horizont dieser Leute war."
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Lebertran und Biomalz
Da die Behörden in der auf Neutralität bedachten Türkei - in Hinblick auf eine erhoffte Zukunft des Ehepaars dort - nicht vom Gefängnisaufenthalt Margaretes erfahren sollten, lief die Korrespondenz über ihre in Wien lebende Schwester Adele. Sie schrieb die auf Anstaltspapier verfassten Briefe ab und schickte sie weiter an Wilhelm in Istanbul. Nur deshalb ist der Briefwechsel weitgehend vollständig erhalten. Flierl: "Die Schwester spielt eine Rolle, nicht nur in der Vermittlung der Briefe, sondern auch in der unmittelbaren Fürsorge für Margarete. Sie hat den Zugang und sie besucht sie. Und sie erfüllt natürlich die Alltagbedürfnisse von Margarete, sofern man sie von außen, außerhalb des Gefängnisses verbessern kann. Welche Nöte, welche Situation auch Margarete hat, ob es um die Augen oder die Zähne geht, und welche hygienischen Artikel notwendig sind, wie es mit ihrer Krankheit, der Tuberkulose steht, und welche Zellengenossinnen sie hat und welche Arbeit sie machen durfte oder nicht machen durfte, wie das Schreibregime war, man erfährt unheimlich viel über den Alltag."
Lebertran und Biomalz - damit Margarete zu versorgen, war unter anderem Adeles Anliegen. "Mein liebes Bib" nannte Wilhelm seine Frau liebevoll; "mein lieber Slib" schrieb sie ihn an. Im Buch enthalten sind nicht nur die transkribierten und ausführlich kommentierten Briefe, sondern auch Fotografien, die Wilhelm mitschicken konnte. Fotos von Orten in der Türkei, die sie einmal gemeinsam besuchen könnten, so die Hoffnung.
LUKAS VERLAG
Erinnerungen an Prinkipo
Der Titel des von Thomas Flierl herausgegebenen Briefwechsels 1941-1945 ist ein Zitat aus einem Schreiben Margarete Schütte-Lihotzkys an Wilhelm Schütte zu ihrem Hochzeitstag: "Mach den Weg um Prinkipo, meine Gedanken werden Dich dabei begleiten!". Prinkipo ist der griechische Name einer Insel im Marmarameer, die von Istanbul mit dem Dampfschiff zu erreichen war und die in wenigen Stunden Fußmarsch umrundet werden konnte.
"Ganz offenbar waren die beiden sehr oft da, hatten da sehr schöne Erlebnisse, und es ist so ein Traumbild: 'Macht den Weg, lass es dir gut gehen. Meine Gedanken werden dich dort begleiten.' Es ist ein ganz uneigennütziger und auf ihn bezogener Liebesbeweis von Margarete. Etwa wie: 'Ich sitze zwar hier und habe eine schreckliche Situation. Du unterstützt mich, mach was aus deinem Leben, genieße es und berichte mir davon.' Das ist sozusagen die Grundphilosophie ihres Miteinanders in dieser Trennung. Das ist sehr beeindruckend", findet Thomas Flierl.
Getrennte Wege
Liebe und Zuversicht sprechen aus den Briefen, die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft. Verbunden waren sie durch die politischen Überzeugungen, den lebensgefährlichen Kampf gegen den Nationalsozialismus und für den Kommunismus; aber auch durch ihre Profession, die Architektur. Beiden blieb es nach dem Krieg weitgehend verwehrt ihre Ideen im sozialen Wohnbau oder für Bildungseinrichtungen umzusetzen. Wenige Jahre nach der Befreiung und dem Wiedersehen trennten sie sich; 1951 ließen sie sich scheiden. Beruflich sollten sie jedoch verbunden bleiben. Das betont auch der Architekt David Baum, der zu Wilhelm Schütte forscht und bei der Herausgabe des Briefwechsels als Konsulent mitgewirkt hat.
"Dem Briefwechsel ist an keiner Stelle zu entnehmen, warum sie sich dann bald entscheiden, sich nach dem Krieg zu trennen", sagt Thomas Flierl. "Das sollte vielleicht auch offen sein. Das ist auch deren Leben und Geheimnis. Auf jeden Fall haben beide eine sehr, sehr intensive Beziehung gehabt und wir erleben durch diesen Briefwechsel das erste Mal auch einen Architektenpaar. Und wir erleben das erste Mal auch Wilhelm Schütte an der Seite und fürsorglich für Margarete Schütte-Lihotzky."
Service
Wilhelm Schütte, Margarete Schütte-Lihotzky; Thomas Flierl (Hg.), "'Mach den Weg um Prinkipo, meine Gedanken werden Dich dabei begleiten!' - Der Gefängnis-Briefwechsel 1941-1945", Lukas Verlag
Margarete Schütte-Lihotzky
Gestaltung
- Anna Soucek