Edmund de Waal

APA/GEORG HOCHMUTH

Die Tränen der Dinge

"Camondo" von Edmund de Waal

Edmund de Waals Familiengeschichte "Der Hase mit den Bernsteinaugen" wird heuer als Gratisbuch in Wien verteilt. De Waal schilderte darin den Weg seiner Vorfahren, der Ephrussis, über Odessa und Paris nach Wien. Sein neues Buch "Camondo" widmet sich einer jüdischen Familie, die in Paris in unmittelbarer Nachbarschaft der Ephrussis gelebt hat.

Moïse de Camondo sitzt im Schatten eines Baumes, einen Panamahut auf dem Kopf, das rechte Auge hinter einer dunklen Augenklappe verborgen, mit buschigem Schnurrbart und hellem Dreiteiler, die Beine lässig übereinandergeschlagen.

Pariser Gentleman

Er ist das Familienoberhaupt der Camondos, mit Marcel Proust befreundet, ein Kunstmäzen, Intellektueller und begeisterter Automobilist. "Er stammte aus einer jüdischen Familie aus Konstantinopel", erzählt Edmund de Waal, "und kam nach Paris, wo er in der fremden Kultur voll und ganz aufgehen und ein perfekter Pariser Gentleman werden wollte. Das hat mich fasziniert, wie ein Leben an einer ganz anderen Stelle zu Ende gehen kann als es begonnen hat."

Auf das Palais der Camondos in Paris war de Waal bei seiner Recherche für sein Buch "Der Hase mit den Bernsteinaugen" gestoßen. Heute ist das Haus ein Museum, das Moïse de Camondo seinem im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohn gewidmet hat. Ein einziges Erinnerungslabyrinth, so de Waal: "Man öffnet Tür um Tür und findet Gegenstände, Möbelstücke, das Archiv mit den Briefen, all diese außergewöhnlichen versteckten Objekte. Und das sind die Orte, an denen man eine Geschichte beginnen lassen kann."

Die Stimme der Dinge

Edmund de Waal ist eigentlich bildender Künstler, sein Material ist Porzellan, im Buch zitiert er Walter Benjamin, der vom Tête-à-Tête mit den Dingen spricht. "Als Keramikkünstler stelle ich Gegenstände her", sagt Edmund de Waal, "und habe deshalb eine sehr intensive Beziehung zu jedem Objekt, das ich in die Hand nehme. Für mich sind Gegenstände deshalb niemals stumm, sondern stellen eine Verbindung zu den Menschen her, die diese Gegenstände hergestellt, besessen oder verwendet haben."

Moïse de Camondo starb 1935, im Alter von 75 Jahren. Die Katastrophe des Holocaust blieb ihm damit erspart. Seine Tochter und Enkelkinder wurden jedoch von den Nazis ermordet. Wie Menschenleben und eine blühende Geisteskultur ausgelöscht wurden, auch das schildert de Waal wie schon im Buch über seine eigene Familie.

Buchumschlag, Camondo

ZSOLNAY VERLAG

Gespräche mit der Vergangenheit

Was ist sein übergreifendes Thema? "Dazu fällt mir ein Zitat des österreichischen Schriftstellers Jean Amery ein, der sinngemäß gemeint hat, dass Geschichte nie zu Ende ist", so Edmund de Waal. "Deshalb müssen wir fortwährend sehr intensive Gespräche mit der Vergangenheit führen, um uns klar zu werden, wo wir heute stehen."

"Gespräche mit der Vergangenheit" ist in "Camondo" wörtlich zu verstehen, denn Edmund de Waal spricht in seinem Buch Moïse de Camondo direkt in Briefform an: "In Briefen kann man interessiert, verunsichert oder gegenteiliger Meinung sein, und man kann Fragen stellen. Außerdem können Briefe ganz verschieden lang, und im Tonfall poetisch genauso wie unwirsch sein."

Das Lachen der Dinge

Genau das macht dieses von Brigitte Hilzensauer wunderbar ins Deutsche übertragene Zwiegespräch mit der Vergangenheit so ungewöhnlich. Dass man in einem Moment in einer nostalgischen Szene schwelgt und im nächsten Augenblick die versteckte Aktualität dieses Bildes erahnt.

Edmund de Waal hat seinem Buch "Camondo" das Motto Lacrimae Rerum, also die Tränen der Dinge vorangestellt. Er lauscht ihnen aber auch ihr einst glückliches Lachen ab.

Service

Edmund de Waal, "Camondo", übersetzt von Brigitte Hilzensauer, Zsolnay

Gestaltung

  • Wolfgang Popp

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