Beatrice Simonsen

DIRK SIMONSEN

Ö1 Kunstgeschichten

"Sonnenanbeterin" von Beatrice Simonsen

Die Keramik- und Textilkünstlerin Maria Biljan-Bilger und der Bildhauer Wander Bertoni waren ein Liebespaar in den vom Krieg geprägten österreichischen 1940er Jahren. Die Liebesgeschichte des Künstlerpaares bildet den historischen Hintergrund für eine Weitererzählung in der Gegenwart. Nun sind es Marie und Bertrand, die sich auf der Suche nach Inspiration durch die Landschaft des Burgenlandes bewegen. Beatrice Simonsen erzählt in ihrer "Ö1 Kunstgeschichte" nicht nur von der Emanzipation weiblicher Kunst. In der Verschränkung der beiden Zeitebenen erlaubt sie auch einen optimistischen Blick auf positive Veränderungen in den privaten Beziehungen. Die Ö1 Erstveröffentlichungsreihe "Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren.

Keramik von Maria Biljan-Bilger

Keramik von Maria Biljan-Bilger

AUSSTELLUNGSHALLE MARIA BILJAN-BILGER/FRIEDRICH KURRENT

Ein rotes Auto biegt auf den Feldweg ein, der aus dem Dorf heraus und hügelaufwärts führt. Schaukelnd federt der Wagen die Unebenheiten des Weges ab, die Scheinwerfer suchen über dem kurzen Gras. Der Fahrer hält das Auto an, stellt den Motor ab. Stille. Nur das Knarren der sich öffnenden Wagentür. Eine in ihrem Gesang unterbrochene Nachtigall nimmt ihr schmetterndes Lied wieder auf. Die Scheinwerfer beleuchten das helle Grünbraun der Wiese, im Hintergrund treffen sie auf Metallisches, das scharf zurückscheint.

Beatrice Simonsen

DIRK SIMONSEN

Die Wiener Autorin Beatrice Simonsen, Jahrgang 1955, ist im Burgenland aufgewachsen. Nach verschiedenen beruflichen Stationen führte sie die Leidenschaft für "Kunst und Literatur" zur Gründung einer kulturvermittelnden Tätigkeit unter gleichem Namen.

Der junge Mann zieht den Schlüssel aus dem Zündschloss, das Licht erlischt. Er steigt aus, streckt und dehnt sich wie nach einer langen Fahrt. Er prüft die Luft, sie schmeckt ihm. Er betrachtet die Wiese, sie gefällt ihm. Er horcht in die Nacht, in den Gesang des Vogels, er lässt sein Herz höherschlagen. Er ist allein. Er umkreist seinen Wagen, schreitet in immer größeren Kreisen darum herum, den Kopf zu Boden geneigt, er tastet mit den Füßen, er findet den Boden glatt und geschmeidig. Dann blickt er auf, schaut in die Ferne, wo die Sonne vor kurzem wie ein glühender Ball hinter der scharfen Linie des Horizonts versunken ist. Im Himmel noch ein roter Widerschein im nachdunkelnden Blau.

Er steht auf dem Gipfel einer kleinen Erhebung in der flachen Landschaft. Unten, am Fuß dieses Hügelkamms, gleich hinter der Straße, auf der von Zeit zu Zeit Scheinwerfer durch das Dunkel pflügen, breitet sich die riesige Fläche eines Sees aus. Es weht einen schlammigen Geruch herüber, obwohl es windstill ist. Kein Wind wühlt die Wasserfläche auf, sie ist still und glatt. Während der See tagsüber trüb und braun ausgesehen hat, wechselt er nun, in der Nacht, in eine unvermutete Helligkeit. Der junge Mann, dessen Gesicht der Jahreszeit entsprechend leicht gebräunt ist, wendet sich zur anderen Seite und blickt auf einen niedrigen und dicht bewaldeten Gebirgszug. Davor die schmalen Streifen der Felder und Weingärten, die mit zunehmender Dunkelheit ineinander verschwimmen. Die Kleinflächigkeit ist ihm fremd. Zuhause, von wo der junge Mann weit hergekommen ist, fahren gewaltige Landwirtschaftsmaschinen über riesige Ackerflächen. Dazwischen keine Hecken und Büsche, kein ungenutzter Streifen Land.

Silvia Meisterle

JAN FRANKL

Silvia Meisterle ist Ensemblemitglied des Wiener Theaters in der Josefstadt. Ö1 Hörerinnen und Hörern ist ihre ebenso wandlungsfähige wie persönliche Stimme aus vielen Radiosendungen vertraut.

Der junge Mann kommt aus dem Westen Europas, aus einem Landstrich, der sich die Kornkammer Frankreichs nennt. Dass er die hiesige Sprache nur unzulänglich spricht, hat er schmerzhaft in dem Wirtshaus, in dem er zu Abend gegessen und dem köstlichen Wein zugesprochen hat, bemerkt. Keine drei Worte hat er gesprochen, hat die Wirtin ihn schon gefragt, wo er denn herkomme. Sofort ist sie in einen merkwürdigen Ton verfallen, den sie wahrscheinlich für ihn am besten verständlich hielt. Offenbar eine Mischung aus Mundart und dem, was man hierzulande Hochdeutsch nennt.

Er musste sich erklären lassen, was ein Liptauer und dass der Wein ein Blaufränkischer sei und eine Rebe, die hierzulande besonders gut gedeihe. Der Blaufränkische ist ihm schneller in den Kopf gestiegen als der gute Rote, den er sonst zuhause trinkt, weshalb er recht eilig das Wirtshaus wieder verlassen hat. Auch ist ihm der Lärm der einheimischen Kartenspielrunde zu laut gewesen und nachdem er die paar Euro auf den Tisch gelegt hat, war er froh über das Gefühl der Sattheit und des Alleinseins in seinem Auto.

In den vielen Wochen, in denen er schon unterwegs ist, ist ihm sein Auto ein Zuhause geworden, mit nur zwei Sitzen vorn, die Rückbank hat er ausgebaut. Darin findet sich nicht mehr als ein Feldbett und ein Schlafsack, in einer Tasche ein Paar Sportschuhe, einige wenige Kleidungsstücke. Kurz nach der Grenze war sein Auto aufgebrochen worden und all sein Hab und Gut gestohlen - bis auf das eiserne Feldbett seines Großvaters, dem die Bespannung fehlte und dem er mit einem breiten Gurt aus Hanfstrick ein neues Leben gegeben hatte. Nachdem er seine erste Wut verdaut hatte, stellte sich ein Gefühl der Erleichterung ein. Er beschloss, den Diebstahl so zu begreifen, dass keine materiellen Dinge es wert wären, diesen nachzutrauern. In Zukunft wollte er jedes Ding, das er in sein Leben ließ, genau überprüfen, ob es den Wert besäße, dass es ihn begleite. So kommt es, dass sein kleines Auto beinahe leer ist.

*

An diesem selben Abend sitzt eine junge Frau an ihrem Schreibtisch in der nahen Großstadt, in einem sehr kleinen Raum, in dem der Schreibtisch eine ganze Wandseite einnimmt. Ein Stuhl, ein Bett, ein Schrank, eine Waschnische, eine Dusche. An der Wand, über dem Tisch, eine Pinnwand voll mit bunten Postkarten. Die Motive sind Bilder aus der Welt der Kunst. Nähme man die Karten von der Wand, fände man auf der Rückseite fein säuberlich notierte Gedichte.

Die junge Frau liest. Sie studiert. Sie studiert im wahrsten Sinne des Wortes. Sie studiert nicht nur den ihr aufgegebenen Lehrstoff, sie studiert das Leben, und zwar so wie es sich im geschriebenen Wort darstellt. Beinahe ohne Unterbrechung liest sie in den Büchern, zuhause, in der Bibliothek, in der U-Bahn und in den Parks, die jetzt, um diese Jahreszeit in voller Blüte stehen. Am liebsten liest sie im Volksgarten, wo die Rosen, von ihren sackleinernen Hauben befreit, nun mit knospenden Köpfen der ersten Sonnenstrahlen harren, um aufzuplatzen und sich in ihrer ganzen Pracht zu zeigen. Einstweilen blüht und duftet der lila Flieder und die junge Frau singt im Kopf das Lied von Edith Piaf über den blühenden Flieder in Paris: le voilá, le printemps, tout fleuri de lilas. Sie ist von einer sie überschwemmenden nostalgischen Welle erfasst, seit sie den Plattenspieler ihrer Mutter in einem der vielen Kartons entdeckt hat.

Neben dem Plattenspieler aus rotem Plastik, einem vorsintflutlich anmutenden Gerät, fand sich eine beträchtliche Sammlung schwarzer Vinylplatten in bunt bedruckten Umschlägen. Bilder für sich, eines bunter als das andere. Am liebsten hätte sie auch diese an ihre Zimmerwand gehängt. Sie begnügt sich damit, sie von Zeit zu Zeit auf dem schmalen Fußboden zu verschieden gestalteten Mosaiken auszulegen. Nina Simone, Iggy Pop, Janis Joplin, Jimi Hendrix, Woodstock ... Sie hat alle auf dem kleinen roten Plattenspieler, der auf ihrem Schreibtisch einen prominenten Platz einnimmt, angehört. Eine nach der anderen hat sie auf den Plattenteller gelegt. "Voll retro", sagen ihre Freunde. "Cool" oder "pffff" waren die Kommentare. Staunend oder verächtlich. Alle aber haben sich schnell wieder den eigenen Sound am Handy herausgesucht, die Ohren zugestöpselt und sie ihrem Plattenschicksal überlassen. Voll retro ist sie, genau, ja. Es passt so gut zu dem Thema, das sie gerade beschäftigt:

"Mein Leben begann nach allen Seiten zu fließen ... Die keramische Produktion der österreichischen Künstlerin Maria Biljan-Bilger und der Aspekt weiblichen Kunstschaffens nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Vergleich zu männlichen Protagonisten der Wiener Kunstszene". So heißt das Thema ihrer Bachelorarbeit. Niemand kennt diese österreichische Künstlerin mit balkanischen Wurzeln. Auch sie kannte sie nicht. Es war Zufall, dass ihre Betreuerin das Thema vorschlug. Diese sprach von einem "Skandal", dass diese Künstlerin vergessen war, man ihre Werke, die an verschiedenen öffentlichen Plätzen in Wien aufgestellt waren, einfach wegräumte, einfach entsorgte. Viele Werke der Künstlerin waren unauffindbar, verschwunden.

"Ein Skandal", wiederholte die Universitätsassistentin am Institut für Kunstgeschichte, wo die junge Frau studiert. Seither liest sie sich in das Thema ein und findet Gefallen an den Porträts der Künstlerin, die diese als junge Frau zeigen. Ein starkes Gesicht. Auch die bunten, fremdartigen Keramiken gefallen ihr, ihr - der Studentin, die nun das Leben der anderen Frau erforschen soll. Obwohl sie weiß, dass sie vielleicht einem Missverständnis unterliegt: sie soll nicht das Leben, sondern das Werk erforschen. Aber gerade das fällt ihr schwer. Lieber erforscht sie das Leben der anderen.

Während sie liest, hebt sie den Arm des Plattenspielers an und setzt ihn in genau jene Rille wieder ein, wo gleich darauf Edith Piaf davon singt, dass endlich der Frühling da ist, Enfin le printemps! Wenn sie diese Piaf-Phase überwunden haben wird, kommt eine andere Phase, die von Jacques Brel oder Juliette Greco. Die altmodischen Chansons passen gut zur balkanisch-österreichischen Künstlerin Maria Biljan-Bilger. Die junge Frau studiert sogar die Texte der Lieder, denkt über Redewendungen und neue Worte nach, sucht diese wie alles sonst im Netz und kann die Melodien schon frei heraus singen. Sie kann sich vieles merken, ihr Kopf ist jung und ihr Herz voll Neugierde.

Wenn sie dann aus dem Haus geht, den Gesamtkatalog der Werke der Künstlerin Biljan-Bilger unter dem Arm oder im Rucksack, hat sie immer ein Lied im Kopf, das sie heimlich singt. Mit diesem Lied sitzt sie im Volksgarten und betrachtet, wenn sie eine Lesepause macht, die Rosen. Die Rose. Das Sinnbild orientalischer Liebessehnsucht, hier kann sie es studieren, in allen Farben, Formen und Düften. Sie wandert von Rose zu Rose und riecht an ihnen. Am liebsten wäre ihr, sie könnte den Duft in ihren Rucksack stecken und mitnehmen. Wenn ihr das gelänge, käme sie leichter über das Jahr.

*

"Sonnenanbeter" von Wander Bertoni

ARCHIV BERTONI

"Sonnenanbeter" von Wander Bertoni

Bertrand, der junge Franzose, wohnt immer noch in seinem Auto am Jungen Berg. Ihm gefällt die Sicht von dort oben auf den See. Der See ist nicht das Meer, das er von zuhause kennt, aber er stellt sich vor, dass auch dies einmal ein Meer gewesen sein könnte, dass es eben nur mehr ein ganz kleines Meer ist. Die Wiese, sein vorläufiges Zuhause, ist viel weniger grün als er sich Österreich immer vorgestellt hat. Überall trifft er auf Sand, wenn er eine flache Stelle für die Nacht im Feldbett sucht. Wenn er gedankenverloren mit den Zehen im Sandboden gräbt, stößt er auf Muschel- oder Schneckengehäuse. Er sammelt sie und fädelt sie auf eine Schnur, hängt die Schnur an den Rückspiegel seines Autos und freut sich, wenn sie ordentlich baumelt, wenn er auf dem Feldweg den Hügel hinunterfährt. Dann singt er meistens dazu, was ihm so einfällt. Das Handy, aus dem er vorher die Musik gehört hat, besitzt er natürlich auch nicht mehr. Das hat jetzt wahrscheinlich ein anderer - oder eine andere, fällt ihm ein.

Im Dorf kennt man ihn nun und wenn er die Tür zum Gasthaus aufmacht, ruft ihm die Wirtin "Bonjour, Monsieur!" entgegen und dann lacht sie breit und stellt ihm sein Viertel Blaufränkischen hin. Dazu die deftige Krautsuppe oder was gerade auf dem Menü steht. Wenn er zum Abschluss noch eine Kardinalschnitte - die Spezialität des Hauses - schafft, strahlt die Wirtin über das ganze Gesicht. Was der dünne Mensch so alles vertilgen kann! Abends, nachdem Bertrand den ganzen Tag zwischen dem weiten See und dem niedrigen Gebirge zu Fuß unterwegs gewesen ist, gegessen und getrunken hat, ist er sehr zufrieden mit sich und der Welt. Im Gasthaus, wo rund um ihn gezecht, gespielt und gelacht wird, sitzt er am Tisch und schreibt in sein Heft. Zwischendurch stützt er den Kopf in die Hand und starrt ins Leere, dann beugt er sich wieder über das Papier und schreibt weiter. Das haben sie gleich akzeptiert, dass er für sich sein will, dass er nicht betrunken laut herumschreien will in einer Sprache, die er nur holprig beherrscht. Auch in seiner eigenen Sprache spricht er leise, laut mag er nicht. Wenn die Kartenspieler am Nebentisch von ihrem Glück oder Unglück übermannt werden, dann packt er sein Heft in den Rucksack und ist schnell bei der Tür draußen. Die Wirtin zwinkert ihm noch rasch zu. Alle wissen, dass er am Jungen Berg in seinem Auto wohnt.

*
Die junge Frau ist auf ein interessantes Buch, das Tagebuch der Schriftstellerin Jeannie Ebner, gestoßen. Im Eintrag vom 22. August 1947 schreibt diese:

"Besuch bei Maria Bilger im Atelier. Sie lag auf einer alten Decke im hinteren Teil des Gartens, nackt, braun, schlafend. Ihre Augenlider glänzten, das starke schwarze Haar wirkte wie schwarzer Bast, wie eine Pflanzenfaser neben der Erde und Kraut. Die Tomaten hingen ihr fast ins Gesicht, ich betrachtete ihre stumpfen kleinen Nägel und die dunklen, violetten Brustmale. Die angenehmste Melancholie ergreift mich, wenn ich Maria betrachte, im Sommer, in der prallen Sonne, wie sie schläft mit ihrem großgeschnittenen Tiergesicht, bei den roten, sonnenheißen Tomaten."

Seit sie den Tagebucheintrag gelesen hat, will Marie unbedingt ins Leithagebirge. Sie möchte jetzt wirklich die alte Kapelle in Sommerein kennenlernen, in der ihre Namensvetterin Maria gewohnt hat. Und nicht weit davon entfernt, am Fuß des Gebirges lebte der Bildhauer Wander Bertoni! Jeannie Ebner schrieb:

"Wander Bertoni liegt im Atelier auf dem Diwan, ein hübscher, zerraufter Bambino rabiato. Er ist wütend, weil Maria nicht ordentlich kocht. Heimlich sehnt er sich manchmal nach einem bürgerlichen Hausstand, öffentlich spielt er den genialischen, freien Künstler. Er wird einmal ein Künstler werden! Was wären die Männer ohne die Leitung gescheiter und interessanter Frauen!"

Anders als die farbfrohen Keramiken der Biljan-Bilger, die Marie einer Welt der Mythen und Märchen zuordnet, findet sie Wander Bertonis Skulpturen rätselhafter. Das Motiv der Säule vorherrschend – von phantastischen Kapitellen gekrönt. Der helle Stein leuchtet vor dem Hintergrund der grünen Wiese. Wie Überreste griechischer Tempel. In einer Wasserfläche knieen Frauenfiguren rund um eine halbhohe pfeilerartige Bronze. Das Internet hat ihr die Sicht darauf freigegeben. Sie erwartet fast, den idyllischen Garten zu finden, in dem seine Geliebte nackt und wie eine fleischfressende Pflanze unter den Tomaten lag.

Sie stellt sich das vor: ein heißer Sommertag, an dem es sie nicht fröstelt, wenn die Haut dem leisen Luftzug ausgesetzt ist. Marie selbst mag es auch, auf der Erde zu liegen, ganz direkt, der Körper auf der Erde. Es ekelt ihr nicht vor dem Getier, das sie in die erweiterte Nahrungssuche mit einbezieht. Sie kann sich Maria unter den sonnenheißen Tomaten gut vorstellen.

Was sie aber noch mehr interessiert, ist der "Bambino rabiato". Auch von ihm hat sie Fotos im Netz gefunden: ein drahtiger Mann, schwarzes Haar, temperamentvoll blitzender Blick. Sie lächelt bei der Vorstellung, dass er lieber vor einem ordentlichen Teller Spaghetti gesessen wäre als vor seiner seelenruhig schlafenden Geliebten. "Ordentlich kochen" hätte Maria sollen, meinte die Freundin Jeannie Ebner ironisch. Ja, ordentlich sollte man als Frau am besten alles können, das hat auch Maries Mutter gemeint, da hat sich nicht viel geändert.

Marie verschlingt ein Buch nach dem anderen. Auffallend findet sie, dass Jeannie Ebner Recht behalten hat: Wander Bertoni ist berühmter geworden als Maria Biljan-Bilger. Sie kann es kaum glauben, dass so viele Keramiken, Gobelins, Malereien und Terra Cotta der ehemals so anerkannten Künstlerin einfach verschollen waren: "Sonnenmutter mit Kind", "Paradies", "Zirkus", "Fabelwesen" oder "Adam und Eva" ... Sie war doch die Entdeckerin, ja die Lehrmeisterin des blutjungen Zwangsarbeiters gewesen, der von den Nazis am Hochofen eingesetzt worden war und dem keine Arbeit zu schwer war. Bertoni fand Aufnahme in der Wiener Künstlerszene der Kriegsjahre, wo ihn sein Charisma und der charmante italienische Akzent beliebt machten. Maria verliebte sich sofort in Wander - und er in sie.

Nach dem Krieg war Maria eine viel beschäftigte Künstlerin der ersten Stunde. Wander studierte bei Fritz Wotruba und hielt sich mit der Restaurierung der zerbombten Kunstdenkmäler über Wasser. Die Beamten, die ihm die Aufträge gaben, zeigten sich über die frischen Gesichter begeistert, die der Italiener den Wiener Barockstatuen gab.

Marie schlägt ihre Bücher zu. Vielleicht tragen manche Statuen das Gesicht seiner Geliebten Maria? Sie will fortan aufmerksamer durch die Wiener Innenstadt gehen.

*
Bertrand schläft im Sternenzelt des Monat Mai. Am Morgen atmen die Wiesen ihren kalten Hauch aus. Dann zieht er den Schlafsack enger um den Hals. Kaum aber dass die Sonne ihre ersten Strahlen über das Gebirge in seinen Rücken schickt, ist er wach und freut sich über den Anblick der erglühenden Sonnenanbeterin, an deren Fuß er sich gebettet hat. Jeden Morgen dasselbe Schauspiel, nach dem er mittlerweile süchtig ist: schlank und glänzend erhebt sich die meterhohe Skulptur aus Stahl über ihm, ragt ins Himmelsblau. Ihren Namen hat er in dem Museum erfahren, das er bald nach seiner Ankunft in Winden am See entdeckt hat.

In Winden am See bin ich, hat er seinen Eltern geschrieben, "Vent au lac" hat er es für sie übersetzt. Er schreibt Postkarten, die ihm als das geeignete Mittel der Kommunikation erscheinen. Die Postkarten stammen allesamt aus einem anderen Jahrhundert, wie seine Eltern.

Wenn er vom Jungen Berg heruntersteigt, kommt er zuerst an der hellen Kirche vorbei. Vom Kirchplatz aus hat er den Ort erkundet, hat ihn durchquert, hat die stark befahrene Straße überwunden, welche die Bezirkshauptstadt Neusiedl am See mit den am Seeufer aufgefädelten Dörfern verbindet, und ist auf der anderen Seite auf ein weitläufiges Areal gestoßen, auf dem er ähnliche Figuren vorfindet wie jene, an deren Fuß er schläft. Das Areal, kaum von einem plätschernden Wasserlauf begrenzt, lässt ihm die Freiheit, scheint die offene Wiese zu spazieren und die Skulpturen aus Stahl, Stein und Bronze zu besichtigen. Die Säule ein bevorzugtes Motiv des Künstlers zu sein. Schlichtes neben Verspieltem, Abstraktes neben Symbolistischem. Die gepflegte Anlage, die mehrere scheunenartig große Steinhäuser umfasst, ist vielleicht eine ehemalige Mühle, so schließt er aus dem Wasserlauf, aus dem dicken Mühlstein, den er unter einer Weide verborgen entdeckt. Niemand stört sein Streunen und Schauen, er genießt die Stille im lichten Wald der Kunstwerke, betrachtet die in einer Wasserfläche knieenden Frauen, die sich an einen Phallus schmiegen, einen doppelköpfigen Janus, wehendes Haar an sphinxisch anmutenden Körpern.

Durch hohe Fenster sieht er in die lichten Räume eines Ateliers und da entdeckt er es endlich: ein Modell "seiner" Skulptur vom Jungen Berg. "Sonnenanbeter 1964" steht auf dem am Sockel angebrachten Schild. "Sonnenanbeterin", sagt er kopfschüttelnd laut. "Eindeutig: Sonnenanbeterin."

Wenn sein Blick am frühen Morgen die Statue hinaufglitt, immer vom rötlichen Schein der aufgehenden Sonne geleitet, dann spürt er die Weiblichkeit der schlanken Figur, die ihren Kopf im Himmel hat. Schmaler Fuß, ausladende Hüften, eckige, in die Höhe gezogene Schultern ... alles strebt nach oben, so als wolle sie abheben, raketengleich in die Wolken schießen. Ein dünner Strich in der Landschaft über der braunen Fläche des Sees schwebend. Der Lärm des Frühlings umgibt ihn und sie am frühen Morgen. Umzwitschert von Vogelgesang wacht er auf, wirr das Haar, der Kopf traumschwer.

*
Der Zug rollt durch die blühende Frühlingslandschaft. Marie spürt ein Ziehen in der Brust. Der Frühling ist schrecklich, findet sie. Immer diese Sehnsucht, wonach weiß sie nicht. Unbestimmt zieht es sie hinaus in die Landschaft, die Vögel toben ihr zwitschernd um die Ohren, ergehen sich im unermüdlichen Balzen, schleppen Baumaterial für Nester, führen Kämpfe gegen Nebenbuhler. Marie beneidet die gefiederten Geschöpfe, die Jahr für Jahr dasselbe Ziel verfolgen. Die Eier könnten geraubt werden, der Habicht könnte die Jungen schlagen, ein Unwetter könnte das Nest vom Baum werfen, ein Hochwasser könnte die Brut ertränken. Die Vögel aber scheren sich nicht um Maries Bedenken und feiern den Frühling wie jedes Jahr.

In Winden am See steigt Marie aus dem Zug, der vom Schilf gelb umrandete See zu ihrer Linken, das sprießende Waldgrün des Leithagebirgs zu ihrer Rechten. Am Kirchplatz hält sie kurz inne. In typischer Barockmanier erheben sich die beiden Fassadentürme der Kirche, haben gedrückte Zwiebelhelme aufgesetzt. Sie geht daran vorbei, strebt der Bundesstraße zu, überquert sie rasch, um den lärmenden Autos zu entkommen. Auf der anderen Seite folgt sie dem Güterweg, der in Richtung der Weingärten führt. Der Weg führt immer am Bach entlang, schon hat sie die letzten Häuser des Dorfs hinter sich gelassen und atmet die frische grüne Frühlingsluft. Jetzt ist ihr plötzlich weit ums Herz, am liebsten möchte sie jauchzen, so schön ist es, weit auszuschreiten, das Gesicht der milden Morgensonne zugewandt. Viel zu schnell hat sie ihr Ziel erreicht, das Freilichtmuseum von Wander Bertoni.

"Wer Bertoni kennt", sein Freund Michael Guttenbrunner, "weiß, dass er in seinem Kopf eine erkenntnistheoretische Gewerkschaft sitzen hat und dass er stets disponiert ist, über Kunst und Natur zu diskutieren. Er hat einen starken physiokratischen Hang und einen Drang ins Universelle. Er ist Realist; aber symbolisch ist er auch." Diese Bemerkung Guttenbrunners hat Marie in ihrem Heft notiert, das sie im Rucksack dabeihat. Den Begriff Physiokratie hat sie im Netz nachschauen müssen. Er bedeutet, dass deren Anhänger davon ausgehen, dass die Natur allein Werte hervorbringt und somit Grund und Boden der einzige Ursprung des Reichtums eines Landes sind.

Bertonis Erdverbundenheit gefällt ihr. Es passt alles zusammen, findet sie: die unter den Tomaten schlafende Maria, Wanders aus der Erde wachsende Säulen. Ein Paradies. Marie steht auf Grund und Boden vor des Künstlers Reich und findet das Tor verschlossen. Nachdenklich wandert sie an der Straße hin und her, hat dennoch freien Blick auf das weitläufige Gelände mit seinen Skulpturen. Im Hintergrund die abfallenden Hänge des Leithagebirges, die fruchtbaren Weingärten, die duftig blühenden Obstbäume, die schwingenden Weiden am Bach. Eine Sinnlichkeit spürt Marie in den bis zu ihrem Nabel reichenden phallischen Gebilden, die ihren Weg säumen. Noch mächtiger ragt die Bronze, die sie aus dem Internet kennt, aus dem Teich. Daneben trägt eine Frauenfigur eine runde Scheibe in den Händen, eine andere ein wehendes Tuch. Wasser, Sonne und Wind, die natürlichen Elemente zeigen sich in den Gestalten, so interpretiert Marie, was sie sieht und sie denkt an Marias "Fruchtbarkeitsgöttin", ihre "Seherin" und die "Drei Schicksalsfrauen" und immer sieht und denkt sie sich Brücken zwischen den beiden Kunstschaffenden.

Erst jetzt bemerkt sie einen jungen Mann, der wie sie um das Gelände streift, vor den Skulpturen verweilt. Unbemerkt hat er sich ihr genähert, sie gehen aufeinander zu, es bietet sich keine Abzweigung an, an der sie eine andere Richtung hätten nehmen können. Auf gleicher Höhe zögern beide, ihre Schritte verlangsamen sich, sie halten an, etwas Vertrauensvolles tut sich in ihren Gesichtern auf. Bertrand bemerkt dieses Leuchten in der schmalen Gestalt seines Gegenübers. Marie blickt schnell auf das wie aus Verzweiflung oder Wildheit zerraufte Haar, senkt die Augen auf das träumerische Gesicht. Ein paar Atemzüge lang stehen sie so, die Hände in den Taschen, etwas hält sie auf.

"Es gibt einen Eingang auf der anderen Seite", sagt der junge Mann, nachdem er sich die Worte im Kopf zurechtgelegt hat. "Kommst du mit?". Sie wägt alle Für und Wider ab, die sie sich angelesen hat, schätzt, dass ihre Chancen Fünfzig-Fünfzig stehen, setzt lachend nach: "Ordentlich kochen kann ich aber nicht."

Bertrand stutzt, überlegt, ob er sie richtig verstanden hat, sagt dann: "Es gibt ein gutes Gasthaus hier." Er lächelt und macht eine Bewegung in Richtung ihrer Hand. "Und die Sonnenanbeterin muss ich dir zeigen. Sie könnte deine Schwester sein."

Redaktion: Edith-Ulla Gasser

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