Mahnmal des Friedens von Landschaftskünstlerin Karina Raeck.

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Ö1 Kunstgeschichten

"Psiloritis" von Richard Wall

Das Gehen ist für Richard Wall eine meditative Tätigkeit, bei der man sowohl Ausblicke als auch Einblicke gewinnt. Für die "Ö1 Kunstgeschichten" erzählt der oberösterreichische Autor, wie er den Psiloritis, Kretas höchsten Berg, bestiegen hat. Und wie er danach auf der den Berg umgebenden Hochebene eine geschichtsträchtige LandArt-Skulptur der deutschen Künstlerin Karina Raeck besichtigt. Die Ö1 Erstveröffentlichungsreihe "Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren.

Bei der kurvenreichen Fahrt, oberhalb von Anogia, drücken immer wieder Böen gegen das kleine Auto, und es entgeht mir nicht, wie der Wind in die Büsche fährt, ein grünes Gewoge und Flackern im Scheinwerferlicht. Immer wieder muss ich dahinzottelnden Schafen ausweichen, auch anhalten und die Hupe betätigen, wenn Dutzende auf und neben der schmalen Fahrbahn lagern.

Es ist noch immer dunkel, als ich die Schuhe wechsle. Die Ösen und Haken der Bergschuhe kann ich, um die Schuhbänder zu schnüren, kaum sehen. Es klappt dennoch, die Schuhe sitzen gut. Ich schultere den Rucksack und greife nach der Steighilfe, den kretischen Hirtenstab, den ich mir von meiner Quartiergeberin in Anogia ausgeborgt habe.

Die Kälte lässt mich frösteln. Stürmische Böen prallen gegen meinen Körper, rauschen in den Büschen der Macchia. Im Osten ein erster heller Streifen, es ist 5 Uhr früh, Anfang Juni. Der Wind dringt durch Hemd und Hose, sodass ich den Rucksack wieder abnehme, die Fleecejacke hervorhole und meine Ohrenklappen-Schirmmütze, die ich im Winter zum Langlaufen und bei Wanderungen benütze. Die Kälte überrascht mich. Ich war so früh aufgebrochen, um der Hitze des Tages zu entgehen.

Richard Wall

Richard Wall, Jahrgang 1953, lebt als Autor, Maler und Fotograf in Engerwitzdorf bei Linz. Nach bereits zahlreichen Lyrik- und Prosabänden erschien seine jüngste Buchpublikation 2021 bei Löcker unter dem Titel "Das Jahr der Ratte".

Ich quere den Parkplatzschotter Richtung Berghang, wo ich in der einsetzenden Dämmerung die Form einer Tafel erkenne. Als ich davorstehe, ist es noch immer zu dunkel, um die Buchstaben erkennen zu können. Beim Packen des Rucksacks habe ich wieder einmal auf die Stirnlampe vergessen. Mit den Händen in den Hosentaschen warte ich noch ein paar Minuten. Als ich das helle Holz frisch geschälter Stangen, die zu einem Geländer gefügt wurden, und daneben einen gestuften Steig erkennen kann, gehe ich darauf zu. Wo sonst, hier muss der Aufstieg beginnen. Ich habe am Vortag immer wieder die "Hiking Map" im Maßstab 1:30.000 studiert. Sollte ich nach wenigen Minuten zu einer Kapelle kommen, wäre ich auf dem richtigen Weg.

Als sich aus dem Grau die schwarze Lanze einer Zypresse schält, weiß ich, dass ich richtig bin. Zypressen sind fast immer ein Hinweis auf einen Sakralbau. Nun erwachen auch die ersten Singvögel, kleinlaut, wie mir scheint, zögerlich erklingen die ersten Stimmen, doch bald schon weht mir der Wind einige Intervalle aus den wenigen vom Wind zerzausten Zedern und Zypressen entgegen.

Ich passiere die Kapelle, einige Schritte weiter bemerke ich auch die ersten Markierungen in Form von zwei nebeneinandergesetzten Punkten, einer nicht viel größer als eine 2-Euro-Münze, in der Farbe Rot. Wie üppig doch im Vergleich die rot-weiß-rote Markierung in den österreichischen Bergen, wie ein auf die Spitze - in diesem Kontext ließe sich sagen: auf die Bergspitzen - getriebener Patriotismus, wie mir immer wieder in den Sinn kam, wenn ich diesen Zeichen zu folgen hatte - die mich zudem an jene Papierfähnchen erinnerten, die wir Anfang der 1960er Jahre in der Volksschule zum Tag der Fahne zu basteln angehalten worden waren.

Florentin Groll

Florentin Groll, Jahrgang 1945, ist Theater- und Filmschauspieler, Regisseur und Lehrbeauftragter am Max Reinhardt Seminar Wien sowie an der Schauspielschule Graz. Als Ensemblemitglied am Wiener Burgtheater, am Schauspielhaus Wien oder am Düsseldorfer Schauspielhaus arbeitete er mit Regisseuren wie George Tabori, Claus Peymann, Martin Kusej, Götz Spielmann oder Wolfgang Murnberger.

Bald darauf ein Wegweiser, nach rechts, hin zu einer Felswand. Das Ziel nun schon lesbar, die Idäische Grotte, Ideon Andron, griechisch Ιδαίο Άντρο. Ich nehme mir vor, ihr auf dem Rückweg einen Besuch abzustatten. Immerhin soll hier Zeus zwar nicht geboren worden sein, aber seine Jugend verbracht haben und später seinem Sohn Minos, dem mythischen König, die Gesetze des Landes übergeben haben. Eine wilde Geschichte, so wie alle, in die griechische Götter beziehungsfreudig verwickelt sind. Kronos, der Vater von Zeus, der selbst seinen Vater Uranos mit einer Sichel entmannt hatte und so zum Herrscher der Welt avancierte, lebte in der Angst, dasselbe Schicksal teilen zu müssen, und fraß daher alle Nachkommen, die er mit Rhea, seiner Schwester, gezeugt hatte. Rhea jedoch verbarg ihren Sohn in dieser Höhle, wie es heißt, wo er ungestört aufwuchs, umsorgt von der Nymphe Melissa und der Ziege Amaltheia. Den Eingang zur Höhle bewachten neun Kureten, Dämonen, die jedes Weinen des kleinen Zeus mit Kriegsgesängen, Waffengeklirr und Trommelwirbel übertönten.

Hier tritt dem Wanderer das erste Mal die kretische Ziege entgegen. Im Gegensatz beispielsweise zur Kuh frisst diese Ziege die Hänge kahl, lässt keine nennenswerte Vegetation außer stacheligen kniehohen Büschen aufkommen, frisst das ihr Bekömmliche bis zu den Wurzeln ab.

Nachdem ich eine Schotterstraße gequert, geht es steil und über lose Steine hinauf in die Phrygana, hinein in die Igelpolstervegetation. Es ist noch immer ziemlich dunkel. Ein Ziegenpfad verleitet mich, bei einer Wegkrümmung geradeaus zu gehen, einen Hang in Richtung einer bergwärts führenden Schlucht zu queren. Nach etwa 100 m erkenne ich, dass ich mich auf dem Holzweg befinde, auch wenn er in diesem Fall als steiniger bezeichnet werden muss.

Ich quere zurück, suche das Gelände ab - die Sonne ist noch immer hinter den Bergen, welche das Nida-Plateau gegen Osten hin begrenzen - und erblicke dann die beiden roten Augen der Markierung, die, bereits verblasst, auf dem unterschiedlichen Grau der Kalksteinfelsen den Weg zum Gipfel weist.

Mein Blick streift immer wieder ab vom Pfad, registriert zwischen der Dornigen Bibernelle, Stechginsterbüschen und duftenden Bergthymiankuppen das verblühte Weiß der Calla, schlaff und tabakbraun geränderte Kelche am noch grünenden Stängel.

Die Schlucht, zu der ich versehentlich gequert, habe ich nun zur Linken, als ich steil nach rechts in einem Geländeeinschnitt aufwärtssteige, hoch und höher. Innehaltend und mich talwärts wendend habe ich vor mir den bereits zurückgelegten Weg und das Nida-Plateau aus der Vogelperspektive, ein von erdbraunen Wegen kreuz und quer durchschnittenes, fahlgrünes Oval, begrenzt vom Grau der Felsen.

Welch ein Glück, sage ich mir, Strapazen freiwillig auf sich nehmen zu dürfen, zu gehen wann, wie und wohin man will, ohne militärischen Drill und Gleichschritt Marsch. Ich gehe meinen Rhythmus, ein Tempo, das ich dem Gelände anpasse, ein über Jahrzehnte internalisiertes, ja instinktives Verhalten, das dazu geführt hat, dass ich am liebsten allein unterwegs bin, mit meinen Gedanken und Beobachtungen. Dieses Gehen führt unweigerlich immer wieder zu den überraschendsten Gedankenspaziergängen oft bis ins Abgründige hinein, und häufig auch gegensätzlich zur Beschaffenheit des Weges, den man gerade leichtfüßig beschreitet.

Vor mir das Huschen eines Sängers, elsternfarben, aber nicht größer als ein Buchfink, immer wieder zeigt er sich, auf einem Stein, einem Zweig der Kugelbüsche, als wolle er mir den Weg weisen durch die Schlucht. In steilen Kehren, mäandernd, steige ich nun, ohne innezuhalten, bergwärts. Hin und wieder auf einem Fels - das rote Wegmarkenaugenpaar.

Ein letztes Steilstück überwindend gelange ich in einen Sattel. Hier trifft mich der Sturm mit voller Wucht. Ein typischer Nordwind, Meltémi genannt. Vor mir liegt nun ein flacher Trichter, offenbar eine Doline. Der Weg führt am rechten oberen Rand vorbei zu einem Steinmann, darauf folgt eine nach Nordwest zu querende Hochebene. Schnellen Schrittes überquere ich die dem Sturm ausgesetzte baum- und strauchlose Fläche. Nicht einmal mehr Gräser bringt dieser Boden hervor.

Gen Westen zieht ein langer Grat hinauf zu einem Würfel; dieser muss, zweifellos, die Timios Stavrós Kapelle sein am Gipfel des Psiloritis. Wärme kommt nach wie vor nur aus dem Inneren des Körpers. Der Sturm ist so stark und widerlich, dass ich schon überlege, umzukehren, nach rechts abzubiegen und an den relativ windgeschützten Südhängen entlang abzusteigen. Ich wäge ab. Nach wie vor bin ich der einzige Wanderer an diesem Tag in dieser Höhe. Die bereits bewältigten Strapazen und den bereits zurückgelegten Anstieg bedenkend und in Erwartung des Rund-bzw. Ausblicks über Kreta entscheide ich mich doch fürs Weitergehen.

Mit der linken Hand halte ich die Schirmkappe fest, die mir sonst der Wind vom Kopf und in den Abgrund reißen würde. Mit großer Willensanstrengung gelingt die letzte Etappe. An der Leeseite des aus Natursteinen errichteten Baus nehme ich die steifgefrorene Hand von der Mütze, lasse mich auf der entlang der Außenwand verlaufenden Steinbank nieder.

Dies ist also der höchste Punkt Kretas, 2454 m über dem Meer. Ich bin eigentlich nicht hungrig, zudem empfinde ich den Platz für eine Jause als nicht gerade gemütlich. Ich zwinge mich zu einigen Bissen, trinke Wasser und mache mir Notizen.

Nach dem Abstieg - ich bin achteinhalb Stunden unterwegs gewesen, suche ich auf der Nida-Hochebene nach der Landart-Skulptur "Andartis", auch "Partisan des Friedens" genannt, der Berliner Objektkünstlerin und Landschaftsarchitektin Karina Raeck.

Landart hat mich Anfang der 1990er Jahre zu interessieren begonnen, als ich auf einer Wanderung entlang der Klippen von Árainn, der größten der drei irischen Araninseln, zu einem Steinkreis von Richard Long gekommen war. Ich war auf der Suche nach einem seltenen geologischen Phänomen gewesen, den sogenannten Puffing Holes. Diese wasserspeienden Löcher entstanden über die Jahrtausende durch die nagenden und brechenden Kräfte der Brandung, die im gebankten Kalk landeinwärts Schächte ausgeschlagen haben, durch die im Rhythmus der anrollenden Brecher Meerwasser wie aus einem Geysir in die Höhe spritzt.

Auf dem Rückweg zur besiedelten, flachen Nordostseite der Insel, stieß ich, ständig Trockensteinmauern des riesigen Labyrinths aus Feldbegrenzungen überkletternd, auf den Landschaftseingriff des britischen Künstlers: eineinhalbmeterlange Steinscheite aus dem grauen scharfkantigen Kalkstein der Insel hatte er in die Klüfte der verkarsteten Feldes gezwängt und mit kleineren Steinen verkeilt.

Hätte ich nicht eine Karte konsultiert, in der auch jede archäologische Besonderheit vermerkt ist, hätte ich den Steinkreis vielleicht für ein prähistorisches Relikt gehalten. Nur ein Spezialist würde erkennen, dass Richard Longs Steinkreissetzung aus der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts stammt, so vollkommen integriert in den von Felstrümmern übersäten Hang und überzogen mit einer Flechtenpatina präsentiert sich dem Wanderer seine Arbeit.

Vor meinen kretischen Wanderungen hatte ich den Namen Karina Raeck noch nie gehört, was aber nichts über die Qualität ihrer Arbeit besagt. Das Internet gab Auskunft und ich erkannte, dass Karina Raeck eine außergewöhnliche Person sein muss. Sie reiste in ihrer Jugend mit ihrem Mann, den Bildhauer Hannes Esser, auf einem alten Segelschiff durch die Ägäis. Diese Erfahrungen standen am Beginn einer lebenslangen Hinwendung zu Griechenland. Sie lebte fortan vorwiegend in Athen, auf den Kykladen und auf Kreta.

Der Errichtung ihrer Skulptur auf der Hochebene oberhalb von Anogia war eine intensive Auseinandersetzung mit dem kretischen Widerstand vorausgegangen. Von 1986 bis 1988 wanderte die Künstlerin durch kretische Gebirgsdörfer, traf auf Zeitzeugen und sprach mit ihnen. Dabei entstand in ihr die Idee zu einem Monument für den Frieden, das dem Kampf der Kreter gegen die Besatzung durch die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg gewidmet sein sollte. In Zusammenarbeit mit Bewohnern von Anogia, insbesondere mit den Schäfern der Nida-Hochebene, wurden in den Jahren zwischen 1989 und 1991 an die 5000 Steine für das Kunstwerk zusammengetragen. Die Form, die an einen Engel erinnert, wurde mit den weißen Kalksteinen ausgefüllt, und ergab so einen Kontrast zur je nach Jahreszeit grünen, gelblichen oder ockerfarbenen Umgebung. Nicht sichtbar, jedoch aufgrund ihrer vorherigen Verwendung haben viele der in die Skulptur eingebrachten, oft tonnenschweren Steine auch eine militärhistorische Bedeutung: sie waren zu Beginn des Angriffs auf Kreta auf der Hochebene verteilt worden, um das Landen deutscher Flugzeuge zu verhindern.

Das 32 Meter lange und neun Meter breite Friedensmonument ist nach 30 Jahren schon ziemlich von der Macchia überwachsen. In den vom Verbiss der Ziegen geschützten Spalten zwischen den Steinen konnten aufgrund des Samenflugs, vielleicht auch mit Hilfe von Säugetieren und Vögeln, Bäume und Büsche heranwachsen. Der "beflügelte Partisan" wird, so man den Bewuchs nicht entfernt, Teil der Natur werden, und dennoch lange an den menschlichen Eingriff erinnern.

Den Abend wollte ich im gastlichen Kafenion der Familie Skoulas verbringen. Nachdem aufgrund der Pandemie die Touristen fernblieben - ich treffe in diesen Tagen, Anfang Juni 2021, in Anogia auf keinen einzigen anderen Touristen - sind auch die Tavernen noch geschlossen. Und so frage ich, ob man mir eine Kleinigkeit zubereiten wolle. Eine halbe Stunde später bekomme ich ein kräftigendes Mahl, dazu eine Karaffe mit Wasser und eine kleinere mit Tresterschnaps, auf Kreta Tsipouro genannt. Dieser wird mir, auf Kreta üblich, nicht in Rechnung gestellt.

Redaktion: Edith-Ulla Gasser

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