Thomas Wally - ORF/JOSEPH SCHIMMER
Neue Musik auf der Couch
Sofia Gubaidulina: Streichquartett Nr. 3
Spannung durch Kontrast zu erzeugen, kann auf verschiedenste Arten geschehen: mithilfe von Dynamik, mithilfe von Harmonik, sprich durch gezielten Einsatz der zur Verfügung stehenden Parameter.
2. Mai 2022, 05:00
Zur Sendung
Zeit-Ton | 02 05 2022
Sofia Gubaidulina schafft in ihrem Streichquartett Nr. 3 (1987) eine ganz eigene Form des Gegensatzes: Über weite Strecken werden in diesem Werk die Saiten nicht auf herkömmliche Art mit dem Bogen zum Schwingen gebracht; erst etwa ab der Hälfte ist der vertraute Klang des Streichquartetts zu hören. Das, was in einem Streichquartett normalerweise an der Tagesordnung steht, nämlich der gestrichene Ton, wird dadurch zur Sensation.
Als Komponistin ist Gubaidulina "vor allem an Unterscheidungen interessiert: ob ein Ton lediglich durch Berührung der Saiten mit den Fingern (senza arco, con le dita) oder durch Pizzicato erzeugt wird, ob beide Hände an diesem Vorgang beteiligt sind oder nur die linke, ob die Saite das Griffbrett infolge des Pizzicatos berührt, ob die linke Hand am Pizzicato beteiligt ist oder dieser Effekt nur von der rechten Hand mit leeren Saiten produziert wird."
Sofia Gubaidulina - LA ROCHE/HOFFMANN
Vielfältiges Pizzicato
Alleine in der ersten Phrase lassen sich folgende Klänge feststellen: Natürliche Flageolett-Pizzicati, Pizzicati mit Vibrato und: ein künstliches Flageolett-Pizzicato. So technisch diese Beschreibungen klingen mögen, so apart, berührend und vielfältig ist der dadurch entstehende Klangreichtum.
Neben dem Pizzicato spielt eine weitere alternative Spieltechnik eine große Rolle, das sogenannte Tapping (von Gubaidulina als "senza arco, con le dita" beschrieben): Hier wird die Saite mit einem Finger der linken Hand fest hinunter gedrückt. Der somit entstehende Klang besitzt eine rasche Attacke, ist relativ trocken und spaltet sich immer wieder in zwei verschiedene Tonhöhen auf.
Gestrichener Ton als Sensation
Sensationell ist nicht nur das erstmalige Erklingen der durch den Bogen in Schwingung versetzte Saiten, sondern insbesondere ein expressives Cello-Solo, welches zum Startpunkt einer groß angelegten Entwicklung wird, eines intensiven Geflechts, in dem alle Stimmen eng miteinander verwoben sind. Ein unaufhaltsames Vorwärts- und Aufwärtsstreben, welches schließlich auch das Quartett beenden wird: in Form von Glissandi, welche in die obersten Regionen der jeweiligen Instrumente führen, wodurch sich das Quartett im höchsten Nichts verliert.
Thomas Wally, neben seiner Tätigkeit als freischaffender Komponist und Violinist auch an der Wiener Musikuniversität als Senior Lecturer in musiktheoretischen Fächern aktiv, betrachtet dieses Werk aus (hör)analytischer Perspektive. In dieser neuen "Zeit-Ton"-Serie stellt er analytische Tools bereit, mit deren Hilfe Neue Musik mit einem geschärften Fokus wahrgenommen werden kann. Jeden Monat wird ein Streichquartett der letzten 100 Jahre analysiert, pro Jahrzehnt eines.
Gestaltung: Thomas Wally