Steine auf weissem Hintergrund.

SUHRKAMP VERLAG

"Die Nacht unterm Schnee"

Ralf Rothmanns literarische Traumaforschung

Der 1953 geborene Schriftsteller Ralf Rothmann war Maurer, Koch und Krankenpfleger, bevor er Ende der 70er Jahre seine ersten Werke veröffentlichte. Seither gilt der mehrfach preisgekrönte Autor als wichtiger literarischer Chronist der deutschen Nachkriegsjahre, stets mit Fokus auf der eigenen (Familien-)Geschichte. Nach "Im Frühling sterben" und "Der Gott jenes Sommers" vollendet er mit "Die Nacht unterm Schnee" seine fulminante, schmerzhafte Weltkriegs-Trilogie und stellt erstmals seine Mutter ins Zentrum.

Seine Mutter Elisabeth habe ihn mit dem Kochlöffel geprügelt, bis er zerbrach, erzählt Ralf Rothmann. Sie habe sich aus Stoffresten elegante Kleider genäht und nächtelang durchgetanzt, mühelos allein eine überfüllte Kneipe bedient und ihr Leben lang Angst gehabt.

Entsprechend sei die erste Reaktion seines Lektors auf das fertige Manuskript ausgefallen: "Er meinte: 'Diese Frau ist ja nicht zu fassen! Sie ist einfach nicht zu fassen in ihrem Umgang mit anderen, in ihrer Zerrissenheit, in ihrer Lebensanschaung.' Einmal im Roman heißt es: 'Ihr war das Leben immer zu viel oder zu wenig' - und genau zwischen diesen Polen bewegte sie sich."

"Ich wollte meine Eltern verstehen",
Ralf Rothmann

Unfassbare Kriegstraumata

Fassbar machen konnte Rothmann sie schließlich durch einen Kunstgriff: Die Ich-Erzählerin Luisa, bekannt aus "Der Gott jenes Sommers", beginnt in ihren Erinnerungen an die ältere Freundin zu kramen, als Elisabeths Sohn - im Roman heißt er Wolf - sie kontaktiert, weil er ein Buch über die Mutter schreiben will. Und so schildert Luisa ihre Eindrücke von der faszinierenden und zugleich zerrissenen Frau, zwischen leidenschaftlichen Affären und Arbeitswut, Lebenslust und Selbstaufgabe.

"Durch diese Distanz, die ich mir mit Luisa selbst geschaffen habe, entstand beim Schreiben sogar ein Gefühl der Zuneigung", erzählt Rothmann, der die einzelnen Kapitel der Ich-Erzählung immer wieder durch eingeschobene Rückblenden unterbricht: Vorbei am brennenden Danzig flieht die 16-jährige Elisabeth im letzten Kriegswinter Richtung Westen, überlebt Bombenangriffe, Vergewaltigungen, Kälte und Hunger.

"Alle 30 bis 40 Seiten gibt es diese kleinen Einschübe als kurze Episoden, die von ihrem Traum erzählen und damit vielleicht eine Erklärung und mitunter sogar Entschuldigung ihres späteren Verhaltens geben", erzählt der Schriftsteller. So betont nüchtern die Schilderung dieser Szenen, so wuchtig wirken sie beim Lesen, und sie legen eine Wunde frei, die mehr als ein Menschenleben lang nicht verheilen wird.

Graue Steine auf einem weißen Buchcover

SUHRKAMP

Autobiografie als Lebensthema

"Ein Schriftsteller verfügt selten über mehr als seine Biografie", sagt Rothmanns Alter-Ego Wolf einmal zu Luisa und beschreibt damit auch den Kern seines literarischen Schaffens. In jedem seiner Bücher spiegelt sich die eigene Lebensgeschichte als gelernter Maurer und Sohn eines Melker-Ehepaares, das ihm schweigend sein Kriegstrauma weitergab.

"Ich habe zum Beispiel noch nie in den Lauf einer Pistole geguckt und träumte dennoch seit der Pubertät regelmäßig davon erschossen zu werden, bis mir ein befreundeter Arzt erklärte, ich habe das Trauma von meinem Vater geerbt."

Schrecklich, intensiv und großartig

Dass Traumata vererbbar sind, weiß Rothmann mittlerweile aus Recherchen, wie sie sich in den Körper einschreiben, hat er am eigenen Leib erfahren. Diese persönliche Betroffenheit bewirkt auch die Intensität des aktuellen Romanes.

"Die Nacht unterm Schnee" lebt vom Wechselspiel zwischen Luisas emotionaler Nähe und skeptischer Distanz zu dieser zerrissenen Frau, und von der großen sprachlichen Eleganz und rhythmischen Sorgfalt, mit der Rothmann die stumpfe Sprachlosigkeit der Elterngeneration beschreibt. Ein schrecklicher, schrecklich spannender und furchtbar großartiger Roman.

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Ralf Rothmann, "Die Nacht unterm Schnee", Roman, Suhrkamp

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