Seifenblasen

ASSOCIATED PRESS/HASSAN AMMAR

Radiokolleg

Der Trend zum Dichten

10. Juni 2022: Lisa postet ein Bild in ihrem Instagram-Feed. Das Bild ist mit dem Hashtag "instalyrik" versehen. Miss Clara Louise teilt eine Story. Zu sehen ist ein mit der Hand geschriebenes Gedicht auf liniertem Papier. Marcus Pöttler schreibt in einem neuen Tweet: "Es regnet mir / in mein Feierabendbier". Dreißig Personen gefällt der Beitrag.

Postings. Stories. Tweets. Die sozialen Medien - ein Ort für die Lyrik? Oder bilden die Insta-Poet:innen auch nur eine Bubble von vielen, die sich auf Twitter, Instagram & Co bewegen? Nicht nur auf Social Media wird Lyrik geteilt. Auch Plattformen wie der Blog "poesiegalerie" oder das Hörportal "lyrikline" stellen täglich neue Gedichte ins Netz.

Die Lyrik-Bubble

„Wahrscheinlich ist die Szene nicht so groß wie die der Beauty-Influencer, aber es gibt auf jeden Fall etliche Accounts, die sich mit Lyrik beschäftigen“, sagt die Spoken-Word-Künstlerin und YouTuberin Sarah Marie.

Spoken Word sei ein Genre der performativen Redekunst, erklärt die vielfach ausgezeichnete Ly-rikerin Karla Reimert Montasser. Dabei werde ein Gedicht oder ein lyrischer Text vor Publikum vorgetragen – oft im Rahmen eines Poetry-Slams. Zahlreiche Spoken-Word-Texte finden sich auf YouTube und Instagram. Sie werden fast ausschließlich von Userinnen veröffentlicht. Gibt es einen Trend zum Dichten? Und ist die Zukunft der Lyrik weiblich?

Karla Reimert Montasser vom Haus für Poesie in Berlin ist jedenfalls überzeugt: Das Schreiben von Gedichten sei so beliebt wie schon lange nicht mehr. Die Lyrik punkte durch ihre Kürze, könne schnell verfasst werden und sei somit enorm effizient. Die Nachfrage für Workshops zu Spoken Word, Kreativem Schreiben und Performance sei hoch. Viele junge Menschen wollen heute Sätze schreiben lernen, die poetisch klingen, um sie öffentlich zu teilen.

„Lyrik ist eigentlich die perfekte Textform für Menschen, die wenig Zeit haben.“

Auch die Literaturwissenschafterin Silvana Cimenti ist überzeugt, dass Lyrik seit einigen Jahren durch die Poetry-Slam-Bewegung und durch Aktivitäten auf Social Media einen Aufwärtstrend erfährt. Sie beobachte auch, dass speziell die Naturlyrik wieder en vogue sei. Junge Menschen beschäftigen sich in ihren Gedichten viel mit Themen rund um die Klimakrise und mit der Zerstörung der Artenvielfalt. Sie schreiben aktivistische Texte und teilen sie im Netz.

„Lyrik ist eigentlich die perfekte Textform für Menschen, die wenig Zeit haben“, bestätigt auch Lyrikrezensentin Monika Vasik. Lyrik zu schreiben sei eine anstrengende Tätigkeit. Man müsse beim Verfassen eines Gedichts unglaublich konzentriert und präzise arbeiten. Sie sei aber schnell produziert und entspreche daher dem aktuellen Zeitgeist.

Social Media - ein Ort für zeitgenössische Lyrik?

Als Jugendliche hat die Insta-Poetin Sarah Marie die Auftritte von Julia Engelmann verfolgt. Engelmann ist seit mehr als zehn Jahren als Slam-Poetin aktiv. Ihre sechs Lyrikbände schafften es alle auf die Spiegel-Bestsellerliste. Sie habe viele Poet:innen dazu inspiriert, selbst Gedichte zu schreiben und diese auf YouTube und Instagram zu veröffentlichen, sagt Sarah Marie. Auf diese Weise sei eine Insta-Poetry-Community entstanden, die sich zum Ziel setzt, spielerisch mit Sprache die Welt zu erkunden.

Die indisch-kanadische Lyrikerin Rupi Kaur zählt zu den erfolgreichsten Insta-Poet:innen weltweit. Mehr als 4,5 Millionen Menschen folgen ihr auf Instagram. Dort postet sie täglich ein Gedicht. Am 26. Juni 2022 veröffentlichte sie etwa einen Beitrag mit dem Text: „other women’s bodies / are not our battlegrounds“. Auf dem Bild ist neben dem Text eine Zeichnung zu sehen: eine Hand, die mit den Fingern eine Pistole formt. Aus dem Zeigefinger zieht eine Rauchschwade.

In Österreich veröffentlicht etwa die Dichterin Sophia Lunra Schnack jede Woche in ihrer Reihe „Lyrik am Freitag“ Gedichte auf Facebook und Instagram. Im deutschsprachigen Raum sind außerdem Clara Louise mit mehr als 200.000 Followern, Melamar oder die afghanischstämmige Lyrikerin Sada Sultani zu nennen.

Social Media - ein Ort für zeitgenössische Lyrik? Sehen Sie selbst nach und suchen Sie beispiels-weise nach #lyriklebt oder #instalyrik!

Gestaltung: Katharina Godler