Olga Neuwirth

HARALD HOFFMANN

Neue Musik auf der Couch

Olga Neuwirth: "Akroate Hadal"

"Akroate Hadal F. gehört zur Ordnung der Vampirtintenfischähnlichen. Er reagiert sensibel auf kleinste Schwingungsphänomene und horcht den Meeresboden ab …

… Die Schwingungsphänomene werden gespeichert in kleinen Kapseln, die über das benthische Substrat ausgestreut sind. Akroate Hadal F. schleudert auf seine Beute, die sich durch Turbulenzen im Wasser ankündigt, ein Geißelorgan (…). Dieses (...) heftet sich durch Ansaugen an die Beute, (...) welche in weiterer Folge den Nahrungsverarbeitungsorganen zugeführt wird."

Dieser Text, im Original französisch, findet sich in einem erstaunlichen Büchlein mit dem Titel "Vampyroteuthis infernalis. Eine Abhandlung samt Befund des Institut Scientifique de Recherche Paranaturaliste". Als Autoren fungieren Vilém Flusser und Louis Bec, von letzterem stammt eine quasiwissenschaftliche Zeichnung des oben beschriebenen Tiefseewesens, Akroate Hadal F. Der Clou: Während die nur auf den ersten Blick biologische Abhandlung über Vampyroteuthis infernalis einem real existierenden Tier, dem Vampirtintenfisch, gewidmet ist, ist Louis Becs Zeichnung von Akroate Hadal F. eine von mehreren Darstellungen real nicht existierender Phantasiewesen.

Prämierte Eigenwilligkeit

Ein solches, eben Akroate Hadal F., ist Titelgeber und Inspiration für Olga Neuwirths erstes, vom Arditti Quartett 1995 uraufgeführtes Streichquartett. Der ungewöhnlichen Namensherkunft entspricht kompositorische Idiosynkrasie auf mehreren Ebenen. Zu Beginn des Werkes sind fast alle Saiten durch drei Arten von Klammern (Büroklammern, Papierhalteklammern und Krokodilklemme) präpariert. Die Deformation des Schwingungsverhaltens der Saiten setzt sich fort in der Deformation der herkömmlichen Stimmung; eine D-Saite (Viola) ist um 60 Cent tiefer gestimmt, durch die Klammern erfährt der stabile Streicherklang auch im Frequenzbereich Verzerrung; so klingt die A-Saite des Violoncellos durch die Bürohalteklammer einen Ganzton höher.

Die Technik der Deformation ist auch in formalen Prozessen ersichtlich, so in Form von asymmetrischen Spiegelhälften, aber auch Akkordstrukturen weisen Verzerrungen auf. Über weite Strecken verzichtet Olga Neuwirth auf vermittelnde Transformationsmöglichkeiten, oftmals treffen Kontrastpartien schnittartig aufeinander, nach wenigen Sekunden herrscht ein völlig neues akustisches Erscheinungsbild. Mit "Akroate Hadal" hat Olga Neuwirth auch im Bereich des Streichquartetts ein eigenwilliges Erstlingswerk hinterlassen - Eigenwilligkeit, die 2022 mit zwei der weltweit wichtigsten Musikpreise ausgezeichnet wurde, dem Ernst von Siemens Musikpreis und dem Grawemeyer Award.

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