Marcel Proust

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Zum 100. Todestag von Marcel Proust

Die Innenwelt der Außenwelt

Der umfangreiche Romanzyklus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" des französischen Schriftstellers Marcel Proust zählt zu den bedeutendsten Texten des 20. Jahrhunderts. Das mehr als 3.500 Seiten umfassende Werk beruht auf einer philosophischen These. Sie lautet: Das Ich ist nicht länger Herr im eigenen Haus.

Das komplexe Textgewebe Prousts wurde vielfach als Beschreibung der mondänen Pariser Gesellschaft des Fin de Siècle interpretiert oder als Erinnerungsroman, in dem verschiedene Lebensabschnitte des Protagonisten thematisiert werden. Übersehen wurde dabei, dass es Proust um die Auflösung der rationalen Ich-Instanz ging.

Der Autor präsentiert Sinneseindrücke, Erinnerungen und körperliche Empfindungen der chaotischen Innenwelt des Erzählers, die sich zu keiner Ganzheit zusammenfügen. Schon die surrealen Visionen der Träume und undeutliche Erinnerungen an vergangene Ereignisse machen deutlich, wie brüchig die Vorstellung einer kohärenten Identität ist. Für Theodor W. Adorno war das Werk "ein grandioser Versuch, die Nichtidentität des psychologischen Subjekts inmitten seiner Identität darzustellen".

Nichtidentität inmitten der Identität

Der Autor präsentiert Sinneseindrücke, Erinnerungen und körperliche Empfindungen der chaotischen Innenwelt des Erzählers, die sich zu keiner Ganzheit zusammenfügen. Schon die surrealen Visionen der Träume und undeutliche Erinnerungen an vergangene Ereignisse machen deutlich, wie brüchig die Vorstellung einer kohärenten Identität ist. Für Theodor W. Adorno war das Werk "ein grandioser Versuch, die Nichtidentität des psychologischen Subjekts inmitten seiner Identität darzustellen".

Proust verknüpft die Dekonstruktion des Ich mit Beobachtungen des Erzählers, die er in der Außenwelt macht. Die Außenwelt erfährt er primär in den Salons der Pariser Großbourgeoisie und der Hocharistokratie. Er stellt das Ränkespiel einer abgehobenen Gesellschaftsschicht - vorerst mit Bewunderung, später mit Sarkasmus - mit akribischer Genauigkeit dar.

Schriften von Marcel Proust

Schriften von Marcel Proust

APA/AFP/STEPHANE DE SAKUTIN

Unwillkürliche und willkürliche Erinnerung

Die Erinnerungen daran tauchen später in dem Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" auf. Die Schilderung der Konversationen, die der Erzähler kommentarlos wiedergibt, demaskiert diese Gesellschaftsschicht in ihrer ganzen Hohlheit und Oberflächlichkeit. Eine wesentliche Rolle bei der Kritik an der hedonistischen Spektakelgesellschaft spielten Überlegungen, die Proust von unterschiedlichen Philosophen übernahm oder modifizierte.

Im Zentrum von Prousts Werk stehen die beiden Formen der Erinnerung: die "mémoire involontaire", die unwillkürliche Erinnerung, im Gegensatz zur "mémoire volontaire", zur willkürlichen Erinnerung. Diesem Vorgang, der vom Willen gesteuert wird, sich präzise an ein Erlebnis zu erinnern, misstraut Proust. Er stellt ihm die unfreiwillige Erinnerung gegenüber, die plötzlich aus den Tiefen des Unbewussten auftaucht.

Die Madeleine-Episode

Ein viel zitiertes Beispiel für eine plötzliche, unwillkürliche Erinnerung ist die sogenannte Madeleine-Episode, die Samuel Beckett in seinem Essay über Proust als ein Denkmal für dessen gesamtes Werk bezeichnet. Hier löst der Geschmack von Tee und Sandtörtchen - den Petites Madeleines - beim Protagonisten des Romans jene Erinnerungen an die Kindheit aus, die bisher verschüttet waren. Diese ungewollt auftretende Erinnerung bewirkt beim Erzähler ein unerhörtes Glücksgefühl, dessen Grund ihm unbekannt bleibt.

"Diese Essenz war nicht in mir, ich war sie selbst. Ich hatte aufgehört, mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen", heißt es im Roman. Beckett beschreibt dieses Glücksgefühl in seinem Essay über Proust so: "Der Erzähler ist betäubt von Wogen der Entzückung, gesättigt mit jenem Glücksgefühl, das die Verzweiflung seines Lebens so selten berieselt hat. Das Grau in Grau verwandelt sich in unerträgliche Helle."

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