Chaya Czernowin

ASTRID ACKERMANN

Neue Musik auf der Couch

Chaya Czernowin: String Quartet

Der erste Klangeindruck des String Quartet von Chaya Czernowin ist ein überwältigender: In kürzester Zeit wird der/die Zuhörer/in mit ausgesprochen viel Information konfrontiert, die Dichte des Materials ist enorm. Mit ihrem Hinweis auf Wat Arun, den "Tempel der Morgenröte", gibt Chaya Czernowin eine wichtige Hilfe für das Verständnis ihrer Komposition: Die vielen kleinen Klangbausteine, die, so scheint es, unvermittelt aufeinanderfolgen, können mit den Scherben gleichgesetzt werden, die die Außenverkleidung des Tempels bilden.

So wie die Scherben des Tempels, so bilden auch die Klangscherben in Czernowins Komposition Muster: "Aus nächster Nähe betrachtet, bildeten diese kleinen Scherben komplizierte, filigrane Muster. Das Wechselspiel zwischen der Präsenz der Totalität des Tempels und seiner aufgesplitterten Teile wurde zum Ausgangspunkt sowohl für das Material wie auch die formale Konzeption meines Quartetts", so die Komponistin.

Eine wichtige Hörhilfe ist Czernowins Beschreibung des Quartetts als einem einzigen großen Instrument: "In meiner Komposition ‚Streichquartett‘ von 1995 verschmilzt das Quartett zu einem einzigen Instrument. Dieses Instrument spielt keine individuellen Klänge, sondern zusammengesetzte Gesten." So ist es beim Hören dieses Quartetts hilfreich, die vielen einzelnen Elemente dieser Musik, die allesamt feinst ausziseliert sind, immer im Kontext einer akustischen Gesamtinformation wahrzunehmen.

Formal betrachtet besteht das Werk aus drei Sätzen, die durch sogenannte Klangfenster voneinander getrennt sind. Im ersten Satz wird das Material des Quartetts exponiert und auch schon verarbeitet, der zweite Satz stellt laut Komponistin eine Art Improvisation dar, der dritte Satz eine Rede, die aus Fragmenten der ersten beiden Sätze aufgebaut ist. Dazwischen finden sich kürzere Intermezzi, die laut Czernowin die Aufgabe eines "Gaumenreinigers" haben: einerseits sollen sie, ähnlich wie der eingelegte Ingwer beim Sushi-Essen, den Wahrnehmungsapparat bereit für Neues machen, andererseits sind diese Klangfenster auch dazu gedacht, um Luft zu holen zwischen den Hauptstücken.

Die im zweiten Satz auftauchenden Loops können auf verschiedene Art gehört werden. Einerseits weist Chaya Czernowin auf die Ähnlichkeit des "Stockens beim Sprechen" bzw. auf das "Gefangensein in Gedankenstrudeln" hin. Sie spricht aber auch von einem "Hineingehen in die Zeit". Ein dritter Vergleich ist jener mit einer Musikmaschine; Czernowin betrachtet das Quartett u.a. als "kleine Musikmaschine", bei der "auch die Produktionsklänge hörbar" sind, damit ist gemeint "wie die Instrumente zu ihrem Klang kommen".

Klingende Scherben

Im dritten Satz werden die "Scherben zu Wörtern, Sätzen" zusammengebaut, die Sätze sind, laut Komponistin, "eine Sprache aus zusammengeklebten Scherben", es entsteht ein "linguistisches Feld". Czernowin verweist in diesem Zusammenhang auf die Holocaust-Überlebenden, die sie als Kind gesehen hat und auf die "Unmöglichkeit des Geistes, so etwas zu behalten". Die Rede des dritten Satzes ist folglich nicht ein klarer, kontinuierlicher Fluss. Immer wieder tauchen Pausen auf, deren Bedeutung nicht nur die eines Art Punktes sind, sondern laut Komponistin auch sogenannte "disharmonische Pausen" sein können oder auch als "Substanz innerhalb eines Satzes" wahrgenommen werden sollen.

Czernowin weist im Zusammenhang mit dem dritten Satz daraufhin, dass die sprachlichen Sätze zwar "eine Sprache aus zusammengesetzten Scherben" sind, aber "eigentlich passen die Scherben nicht so genau zusammen - oft sieht man nur Teile davon, oft sind die Scherben schräg, schief; der Winkel der Scherbe ist immer anders", so die Komponistin.

Text: Thomas Wally

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