Herbststimmung mit Bäumen und Bodennebel

DPA/HOLGER HOLLEMANN

Mütter-Töchter-Roman

Ulrike Draesners "Verwandelten"

Zwei Jahrzehnte lang hat die Lyrikerin und Romanautorin, Übersetzerin und Literaturprofessorin zu den Themen Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert recherchiert. Die zahllosen Nachforschungen, Erkundungen und Interviews mit Zeitzeuginnen mündeten in einer Romantrilogie, die nun mit "Die Verwandelten" ihren fulminanten Abschluss findet.

Eine fürwitzige "Das-doppelte-Lottchen"-Begegnung bringt den Stein ins Rollen: Die Anwältin Kinga wird nach ihrem Vortrag über die nationalsozialistischen Lebensbornheime von einer wildfremden Zuhörerin namens Doro angesprochen, die ihr verblüffend ähnlichsieht und überraschend gut Bescheid weiß über Kingas kürzlich verstorbene Mutter Alissa, einen dubiosen Breslauer Großvater und andere familiäre Verbindungen.

Ulrike Draesner

Mit ihrem neuen Roman legt die vielfach preisgekrönte Autorin Ulrike Draesner eine Mütter-Töchter-Geschichte entlang der Oder und des 20. Jahrhunderts vor.

Dominik Butzmann

"... packende Familiensaga, die dem gewaltvollen 20. Jahrhundert völlig neue, weibliche Dimensionen und Aspekte abringt", Judith Hoffmann

Patchwork-Family mit Narben

"Die beiden Familiengeschichten sind eigentlich ganz einfach miteinander verbunden, nämlich ein uneheliches Kind einer Köchin mit ihrem Dienstherrn", erklärt die Autorin. Besagte Köchin, die burschikose Adele, will in den 1920ern eigentlich zur See statt in den Küchendienst und stellt eine von zehn plastischen Frauenfiguren dar, die Draesner entlang der Romanhandlung auftreten und zum Teil selbst erzählen lässt.

So schildert der Roman aus wechselnder Perspektive von einem Jahrhundert der Vertriebenen, Verfolgten, Vermissten und Verwandelten, vor allem aber davon, wie Frauenkörper zu Kriegszwecken missbraucht wurden - "entweder als Gebärmaschinen wie im NS-Regime oder durch systematische Unterdrückung, körperliche Misshandlung und Vergewaltigung wie in allen Kriegen bis heute", so Draesner. Direkt zur Sprache bringt sie diese Vorfälle nicht. Vielmehr gehe es ihr um die Wellen, die solche Erfahrungen schlagen und die bis in die nächste und übernächste Generation hineingespült werden.

Vergrabene Biografien und die Mühsal der Freilegung

Etwa jene der beiden Halbschwestern mit ihren gegenläufigen Verwandlungen: Adeles Tochter Alissa kommt 1937 in einem NS-Lebensbornheim zur Welt, wird als Fünfjährige von glühenden Nationalsozialisten adoptiert und mit einer neuen Identität versehen. Ihre neun Jahre ältere Halbschwester Reni Valerius flüchtet nach dem Krieg vor den Sowjets in eine neue Identität als Walla Dombrowska.

Erst gegen Ende ihres Lebens werden sie wieder aufeinandertreffen, als gezeichnete, aber kraftvolle Frauen von faszinierender Resilienz und Verschwiegenheit.

Das verschämte Schweigen der Mütter bringt Draesner in ebenso poetische Formen wie das trotzige Nachforschen der Töchter. Jede Erzählerin erhält eine eigene Stimme und Tonart, von Alissas zögerlichem In-Sich-Hineinfragen über Wallas beherztes Schlesisch bis zu Doros witzigem Balanceakt zwischen Sprachen und Zuschreibungen.

Verschämte Erinnerungslücken

Am Ende bekommt auch Alissas Adoptivmutter eine Stimme: "Die Geschichte unserer Generation ist noch nicht geschrieben", raunt die 102-jährig Verstorbene als Geist aus dem Jenseits und meint damit vor allem die Geschichte der Frauen, deren Schicksal besonders im Krieg systematisch verdrängt und verschwiegen wird.

"Wenn man noch einmal nachforscht zum Zweiten Weltkrieg, vor allem zu den Jahren 1944 und 1945, dann finden sich keine konkreten Zahlen dazu, wie vielen Frauen was genau geschehen ist. Es gibt nur Mutmaßungen, Dunkelziffern und Ahnungen. Diesen Geschichten haftet eine große Scham an und sie werden oft nicht erzählt, nicht mit den Nachkommen besprochen, aber doch weitergegeben."

Die Weitergabe, dieses nebulose Erbe, besteht im Roman etwa aus unerklärlichen körperlichen Beschwerden, die plötzlich auftauchen, aber auch aus Narben an den Gliedmaßen der Mutter, nach denen nie gefragt wird, aus unverhofften Polnischkenntnissen einer ahnungslosen Kinga, oder aus gestickten Codes, die als Muster in Handarbeitsrunden weitergegeben werden.

Zurück zu den eigenen Wurzeln

"Ich erinnere mich an meine Großmutter, wenn da mehrere geflüchtete Frauen beim Sticken und Stricken zusammensaßen, da wurde mal so ein Satz fallengelassen, dann ein anderer Halbsatz, ein 'weißt schon, der ist dann auch verschwunden', und so weiter", erzählt Draesner, die als Tochter eines geflüchteten Schlesiers in München aufwuchs und wie schon in "Sieben Sprünge vom Rand der Welt" wieder in diese Gegend zurückkehrt.

Sprachlich schlingert die Lyrikerin und Übersetzerin Draesner zwischen Polnisch, Deutsch und Schlesisch, mischt Redewendungen, unterwandert Sprachgrenzen und Denksysteme und lässt manche raffinierte Metapher auf den ersten Blick wie einen Tippfehler erscheinen.

"Die Verwandelten" ist zweifellos kein leichtfüßiger Page-Turner, im Gegenteil: Wer ihn allzu gierig verschlingen möchte, läuft Gefahr, sich an den vielen würzigen Konstruktionen und Sprachtüfteleien, an den verschlungenen Lebenswegen und deftigen Lebensweisheiten zu verschlucken. Wer "Die Verwandelten" allerdings bedächtig genießt, wird mit ungeahntem Witz, tiefsinnigem Humor, einer herzerwärmenden schlesischen Alltagskultur und einer packenden Familiensaga belohnt, die dem gewaltvollen 20. Jahrhundert völlig neue, weibliche Dimensionen und Aspekte abringt.

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Ulrike Draesner, "Die Verwandelten", Roman, Penguin
Ulrike Draesner

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