Vincent Van Gogh "Sternenhimmel" (Detail)

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Eine Traumreise mit Vincent van Gogh

Ausgehend von dem berühmten Bild "Sternennacht" des niederländischen Malers Vincent van Gogh bewegt sich Johanna Vedrals Kunstgeschichte durch die Tiefen und Untiefen der Seele. Ein träumendes weibliches Ich wird in Erinnerung und visionärem Erleben von der Farbe Blau geleitet. Doch wenn es einen Traum gibt, dann muss es auch ein Erwachen geben. Die von Edith-Ulla Gasser kuratierte Erstveröffentlichungsreihe "Ö1 Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren.

In deinem Traum steigst du allein auf einen Berg, bis zum leuchtenden Gipfel. Du atmest tief ein, und beim Ausatmen breitest du deine Arme aus wie Flügel. Du springst einfach in die Luft, hebst ab und lässt dich jauchzend vom Wind davontragen mit weit ausgebreiteten Schwingen. Du möchtest für immer fliegen in deinen Träumen, High In The Sky die Welt von oben betrachten, doch dann wird dein Körper schwerer und schwerer und der Boden kommt immer näher und dann …

… sitzt das Kind in der offenen Tür, mit dem Rücken zum Garten. Die aufgehende Sonne lässt den Morgentau in der Wiese glitzern wie tausend Diamanten. Das Kind blättert im Buch der Nacht, in dem die Träume eingefangen werden. Ein neues Kapitel, der Blitz schlägt ein. Für einen Moment eine Säule aus grellem Licht, das Nachbild flackert blau:

Johanna Vedral

Die Wiener Autorin Johanna Vedral, geboren 1967, ist Psychologin, Kunsttherapeutin und Dozentin für wissenschaftliches und autobiographisches Schreiben. Sie publizierte neben schreibdidaktischen Artikeln und Kurzgeschichten das Sachbuch "Collage Dream Writing" (2017) über Methoden des bildergeleiteten Schreibens sowie den autobiografisch grundierten Roman "Freiheit, du wildes Tier" (2019).

Da ist der Kasten mit der Holzmaserung, in der du Gesichter sehen kannst, die Schlafcouch deiner Mutter mit der gehäkelten Tagesdecke, dein Bett. Durch die Kellerfenster ist ein Stück Lichtschacht zu sehen, meistens muss die Korblampe in der Mitte des Raumes an sein, über dem Esstisch. Am Kopfende deines Betts klebt eine Postkarte an der Wand, die hat dir dein Vater zum Geburtstag geschickt: Ein nachtblaues Dorf mit einem gewaltigen Himmel, wie du ihn noch nie gesehen hast, so gewaltig der Mond und die Sterne, Sternennacht, so heißt das Bild, Sternennacht, was für ein leuchtendes Wort! Du liegst ab sieben Uhr im Bett, gleich nach der Gutenachtgeschichte im Radio, wenn "Das Traummännlein kommt".

Du lauscht deiner Mutter, die in der Küche das Geschirr abwäscht, knabberst an deinem goldenen Taufkettchen, das kleine Kreuz nachgiebig unter deinen Milchzähnen, durch die Ritzen der Zimmertür dringt ein wenig Licht, die Schatten werden immer dunkler und verwandeln sich in raunende Wesen, die dir in deine Träume folgen. So lange wie möglich versuchst du, nicht einzuschlafen, du willst nicht dahin, wo die Monster auf dich warten, du schaust in die Sternennacht. Es gilt, rechtzeitig ins wogende Blau zu steigen, bevor es zu Schwarz wird, denn dieses Bild ist eine Tür in einen guten Traum, in dem der Mond leuchtet wie eine freundliche Laterne und du vor den Monstern davonfliegen kannst. Du breitest nur deine Arme aus und wirfst dich in den Himmel, wie der Rabe Abraxas.

Pippa Galli

Pippa Galli

Pippa Galli, Wienerin des Jahrgangs 1985, stammt aus einer Schauspielerfamilie. Mit sechzehn Jahren brach sie die Schule ab, ging ans Theater und fand ihre Berufung auf der Bühne, beim Film und als Sängerin eigener Texte und Kompositionen. Zuletzt erschien von ihr das Album "Blick".

Dass du jetzt im Traum fliegen kannst, musst du gleich deinem Vater erzählen, wenn er das nächste Mal zu Besuch kommt. Aber dann bist du krank und hast viel Zeit, dieses Bild weiter zu betrachten, du liegst wochenlang im Bett, zuerst mit Masern, dann mit Röteln und auch noch Feuchtblattern, übersät mit juckenden Pusteln, fiebernd und mit vom vielen Liegen schmerzenden Knochen. Besonders schlimm sind die Feuchtblattern, du musst Handschuhe tragen, damit du dich nicht kratzen kannst. Deine Mutter warnt dich vor bleibenden Narben, aber da wischt du mit den Handschuhen zwischen deinen Augenbrauen, wo es so höllisch juckt, und schon liegt da eine Blatternkruste, die ist ja so groß wie ein Schilling, sagt deine Mutter zu deinem Vater, als er über deine erste Narbe streichelt.

In der Nacht träumst du, nein, du erinnerst dich, wie deine schwarze Katze Minka im Keller ihre Babys versteckt hat, und du wolltest sie sehen, bist so schnell gelaufen, dass du über die Stiegen hinuntergefallen bist, mit dem Kopf voran, aber du bist gut im Fallen, du kannst ja fliegen, deine Hände landen gut, Katzen haben neun Leben, aber Minka weint tagelang, weil ihre Babys verschwunden sind.

Als ihr ohne deinen Vater in eine größere und hellere Wohnung umzieht, läuft Minka davon, und das kleine blaue Bild von der Sternennacht geht ebenso verloren wie deine Pippi-Langstrumpf-Schallplatten.

Vincent Van Gogh, "Sternenhimmel" Das Gemälde hängt im MoMA, New York

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Das nächste Mal siehst du im Zeichensaal das verloren gegangene Himmelsbild. Deine Lehrerin für die bildnerische Erziehung verschwindet immer wieder im Kammerl nebenan, um ihre stinkenden A3-Zigaretten zu qualmen und lässt euch im Dunklen sitzen. Ihr müsst die mit dem Diaprojektor an die Wand geworfenen Kunstwerke nachzeichnen. Nach der Mona Lisa und dem armen Poeten in seiner Dachkammer ist da auf einmal die Sternennacht, so groß wie nie zuvor.

Deine Zeichnungen sehen zu kläglich aus, um eine positive Note zu bekommen, also musst du ein Referat über Vincent Van Gogh halten. So wird dein geheimnisvolles Traumbild zu einem sachlichen Vortrag über die Geschichte mit dem abgeschnittenen Ohr, voller Gemeinplätze über die Metaphorik der dunklen Nacht der Seele: das Bild als Zufluchtsort, farbenprächtig auf die Leinwand gespachtelt. Die Lehrerin versaut dein Zeugnis mit einem Dreier: Du hast zu wenig Originelles über die Symbolik der Sternennacht erzählt und Pinselstrich, Farbgebung und andere Aspekte der Maltechnik nicht detailliert ausgeführt. Vielleicht hat es sich auch auf die Note ausgewirkt, dass du dieses Bild liebst und es ist ein Zeichen von schlechtem Geschmack, ein Bild zu lieben, das millionenfach als Poster in Musterwohnungen hängt und auch auf Buchcovern, Notizbüchern, Lesezeichen, Ansteckbuttons, Regenschirmen, Schals, Krawatten und Vorhängen zu finden ist?

Mit 14 hast du ein eigenes Zimmer mit Aussicht auf die Almwiese des Himmelreich-Bauern, denn nun lebst du mit deiner neuen Familie in einem großen Einfamilienhaus neben einer Kuhweide. Die Wände hast du mit Rolling-Stones-Postern tapeziert und schreibst deinem Vater mit der Kofferschreibmaschine lange Briefe über die Bücher, die du gelesen hast, du tippst mit zwei Fingern, was dich in den Büchern von Sigmund Freud und Erich Fromm und Viktor Frankl beeindruckt. Du beginnst die Nacht zu entdecken, meist so lange exzessiv lesend, bis du deine trockenen Augen mit Spucke befeuchten musst. Danach liegst du im Finstern im Bett, lässt die rot-weiß karierten Vorhänge offen und schaust in einen Sternenhimmel, wie du ihn als Stadtkind zuvor nie gesehen hast. Als du das erste Mal mit deiner neuen Brille den Nachthimmel betrachtest, bist du sehr erstaunt, dass die Sterne nicht so strahlende große Flecken sind wie Van Gogh sie malte, sondern kleine Punkte. Du magst deine Sterne aber lieber unscharf mit Halo, weichgezeichnet von deinen kurzsichtigen Augen, du legst die Brille auf dein Nachtkastl und dann träumst du …

… du gehst mit Freunden wandern, ihr wollt zu einer leuchtenden gläsernen Burg. In der Ferne, hinter gewaltigen Bergketten geht majestätisch die Sonne auf. Die anderen wollen weiter zur Burg, aber du willst nur in die Sonne schauen, die so verheißungsvoll in allen Regenbogenfarben strahlt. Es ist Sonnenaufgang und Sonnenuntergang zugleich, und dann beginnt ein Sonnensturm. Eine Lautsprecherstimme befiehlt, ins Innere der Burg zu gehen. Du willst davonlaufen, aber es geht nur ganz langsam, als würdest du durch Wasser laufen. Plötzlich reißt die Erde auf, ein leuchtendes Ufo steigt hoch. Du musst dich ganz still verhalten, um nicht entdeckt zu werden von den Aliens. Doch sie finden dich: Drei entsetzliche Monster mit glühenden Augen lähmen dich mit blauen Strahlen. Sie wollen dich operieren.

Das Spiel beginnt damit, dass du dich auf den OP-Tisch legst und eine Narkosespritze bekommst. Wenn du von zehn bis eins rückwärts gezählt hast, ist das Tor in die andere Welt offen, aber du musst da durch, bevor der Nullpunkt erreicht, bevor die Spritze ganz durchgedrückt wurde. Dann ist es Zeit, in die Zwischenwelt zu schlüpfen. Du musst das Meer der Sehnsucht durchqueren, aber darfst dich nicht von den verlorenen Seelen ansprechen lassen. Die stehen für immer in der Regenbogen-Bucht und warten darauf, dass der Magic Bus kommt.

Du musst auf dem Trapez schaukeln und dich im richtigen Moment einfach nach hinten fallen lassen, in den Spalt zwischen den Welten, zwischen den Zeiten, zwischen Wachsein und Koma, zwischen Traum und Wirklichkeit. Lass dich fallen. Wenn die Tür sich für dich öffnet, gehe ins Meer der Ruhe. Wenn du das Biest triffst, die unendliche Schlange, zeig keine Furcht. Du kannst vertrauensvoll deine Hand in ihr Maul legen. Streichle sie und schau ihr in die Augen: Du weißt, du hältst das Steuer fest in der Hand auf der Fahrt durch das Knochenland.

Wenn du wieder aufwachst, ist die Operation gelungen. Wenn du dann noch immer im Krankenhaus bist, wo dich Aliens mit Operationsmasken betrachten und du dich noch nicht bewegen kannst, nur in Gedanken, gehe drei Felder zurück, bis ins Meer der Heiterkeit, setze deine Astronauten-Maske auf und lass dich fallen, fallen, fallen. Völlig losgelöst von der Erde zähle rückwärts von zehn bis eins, bis eine neue Dimension sich vor dir auffaltet und dann springst du in den See der Träume. Du hast gewonnen, wenn du nicht mehr auf der erdabgewandten Seite des Mondes, sondern in deinem eigenen Bett aufwachst.

Ja, das ist dein Bett, aber als du die Nachttischlampe einschaltest, wird dein Zimmer in Zwielicht getaucht, und durchs Fenster siehst du nicht die vertraute dunkle Bergkette, sondern einen aufgewühlten blauen Himmel, in dem die Sterne fahl glimmen. Das muss ein Traum sein, denkst du, du willst jetzt aufwachen …

… aber dann bist du wieder im Sternenmeer, da wird so viel Blau aufgewirbelt aus einem düster lockenden Gebiet der Seele, und so laut ist der Schmerz am Leben, der aus dem Blau quillt. Da schwimmt die Marienstatue, die du immer nachts im Kabinett bei deiner Großmutter betrachtest. Maria Mutter Gottes, voll der Gnade, lass dich von ihrem blauen Sternenmantel einhüllen, sei ganz Ohr: Du kannst jetzt die Stimmen hören aus den anderen Dimensionen, aus dem Feenreich, aus dem Himmel und aus dem Reich der Dämonen, und du hörst auch die Stimmen aus der Vergangenheit und aus der Zukunft, die Stimmen von den Inseln der Klarheit und auch die Stimmen der Ungeborenen, der Geister und der Toten … und natürlich die Stimme deines Blutes. Dein Herzschlag dröhnt wie ein Choral in einem mächtigen Dom, und all diese Stimmen steigen hoch in weihrauchgeschwängerten Girlanden.

Als du beginnst, die Bücher zu lesen, die du bei deinen Ferienbesuchen im Regal deines Vaters findest, Patanjali, Krishnamurti und Tagore, weist er dich auf ein Buch über Jnana Yoga hin, das Yoga des wahren Wissens, doch das scheint dir zu abstrakt, du vertiefst dich lieber in "Die Bilderwelt der Seele".

Es heißt, wir denken über Träume nach, aber in Wirklichkeit träumen wir über das Denken. Denken und Träumen sind ein und dasselbe. Die Bilder tauchen aus demselben Nichts auf, eins löst sich auf ins nächste, wie Regentropfen im Fluss der Gedanken. In der Sprache des Traumes ist nicht eins nach dem anderen. Die Worte sind Bilder, du kannst sie gleichzeitig oder in beliebiger Reihenfolge anordnen. Aber je mehr deine Sprache nur dir selbst gehört und sich fließend in einen berauschenden Monolog verwandelt, wird sie zur Sprache der Verrücktheit. Dann kannst du dich nicht mehr ent-äußern, liegst eingerollt in der innersten Windung des Schneckenhauses und lauscht dem Wind, der hier weht in der heulenden Stille, doch der Strom der Bilder spült dich zurück in einen anderen Traum. Du kannst nicht sprechen, da sind nur geheimnisvolle Dinge ohne Namen und Wesen, die haben Farben, Formen, Schwingungen und Töne, das Schweigen aber hallt in deinem leuchtenden Schädel.

Woher weißt du, dass das kein Traum ist? Kannst du jetzt einfach in die Luft springen und davonfliegen? All-eins bist du hier, Herrscherin deiner Welt, denn du bist die, die die Träume macht, sie mit dicker Farbe auf die Leinwand spachtelst, mit einem zarten Aquarellpinsel aufs Papier haucht oder aus der Füllfeder quellen lässt. Denn immer hältst du das Steuer fest in der Hand auf der Fahrt durch das Knochenland.

Du erklärst deinem Vater, dass du Psychologie studieren möchtest, weil du verstehen willst, wie das Bewusstsein funktioniert, im Träumen wie im Wachen. Du erzählst ihm auch alles, was du über Rattenexperimente, höhere statistische Verfahren und die Feinheiten der Klassifikationssysteme für Psychosen gelernt hast. Er freut sich mit dir, als du die buddhistische Psychologie entdeckst und das Yoga des weißen Lichts. Er bemerkt aber nicht, dass dein Interesse für luzides Bewusstsein sich in eine Schlange verwandelt, die dich zu verschlingen droht.

Du willst im Wachen und im Träumen bewusst sein, doch nun bist du am Tag wie eine Schlafwandlerin und dein Schlaf ist in hundert Teile zerhackt, im Spiegel ein fremdes Gesicht, dein Gehirn flackert wie eine Glühbirne kurz vor dem Durchbrennen, und die Bilder strömen und wirbeln und brausen und wogen. Langsamer, bitte langsamer drehen! Alles bewegt sich wie Wolken am Himmel, offene Fenster in andere Dimensionen sind überall in den zerstückelten Nächten. Du willst dich nur noch aus diesem Körper hinauskatapultieren, heim zu den Sternen.

Oder du könntest dich in der Zeit rückwärts bewegen, bis zum Nullpunkt. Du bist dabei, verschwindend klein zu werden. Du liegst zwischen den Ritzen der Zeit und wartest auf den Kuss der Schlange, der dich wiederbelebt. Wo kannst du dein müdes Haupt betten, um hundert Jahre zu schlafen? Du möchtest endlich die Augen schließen und nicht mehr bewusst sein, du willst nur noch vergessen, doch dein Blick fällt stets ins Innerste der Welt, direkt hinein ins wogende Himmelsmeer, ohne Filter. Du schaust ins kalte Auge der Himmelsschlange, du wirst einfach herausgerissen aus deinem kleinen Menschsein, hinausgewirbelt ins All, wo kein Mensch überleben kann, aber du bist noch immer hier, irgendwo da oben bist du, in der Ewigkeit und gleichzeitig in dem Körper da in der Wüste, am Fensterbrett oder doch in deinem Bett, wie oben so unten, wie innen so außen, du kennst dich aus, du hast die Bhagavadgita gelesen und Aleister Crowley und Carlos Castaneda, also sag nicht, du wärest abgedriftet, abgehoben, abgefahren. Du weißt, Energien bewegen sich immer rhythmisch zwischen zwei Gegensätzen. Wenn es einen Traum gibt, muss es auch ein Erwachen geben.

In deinem Traum kann das Infrarotlicht die dicken Staubschichten fast ungehindert durchdringen. Es offenbart sich eine Fülle von Sternen, die sonst verborgen sind, ein Blick ins All, ohne Filter. In einem Gespräch über Schlangenträume erzählt dein Vater dir von einem Schöpfungsmythos: Der Urdreh der Himmelsschlange setzt das Universum in Bewegung, und das Rad der Zeit dreht sich immerzu weiter, wie eine Schlange, wenn sie sich einringelt in der blauen Stunde nach einer schlaflosen Nacht. Nach der ersten Chemotherapierunde, als dein Vater plötzlich durchsichtig aussieht, möchtest du von ihm wissen, ob die Dunkelheit das Licht umfasst oder das Licht die Dunkelheit enthüllt? Er schläft mitten im Gespräch mit einem Lächeln ein und bleibt dir die Antwort schuldig.

Du wachst in einem neuen Traum auf, die Schlange hat schon deinen Fuß verschlungen, sie schluckt dich mit Haut und Haar und Seele. Schrei nur, es hört dich keiner unter diesem fahlen Himmel, dies ist kein Ort für Lebende, nur Schatten flackern vorbei, und der Wind heult und verweht den Sand genauso wie deine Erinnerungen. Hier geschieht es, aber du weißt nicht, was, eine geheime Zeremonie mit einer Schlange? Du denkst, du hast sie in der Hand, du hast doch alles unter Kontrolle, doch die Schlange muss einfach nur ihr Maul aufreißen, so weit, bis die ganze Welt in ihrem Schlund verschwindet. Der Nebel wabert in deinem Kopf, und wer sagt, dass du noch einen Körper hast, der sich aus der Umklammerung der Schlange zu befreien versucht?

In dieser Zeit, als du Wachen und Träumen nicht mehr auseinanderhalten kannst, die Nächte wie Sand in den Augen und die Tage überflutet von seltsamen Träumen, klebst du dir fluoreszierende Sterne an die Decke über dein Hochbett. Dein Bett ist deine Burg, da liegst du mit Fieber und mit deinen Träumen. Aus all dem Schmerz entstehen Kristalle, so rein wie das Licht der Sterne.

Schaust du zu lange in die Sonne, wirst du blind, schaust du zu lange in den Nachthimmel, wirst du verrückt. Schau nicht hin, da ist so viel Blut, schau ins Innerste der Flamme, es ist blau, das ist die höchste Leidenschaft, so tief wie das Meer und so weit wie der Himmel. Du schwebst mit einem Krähenschwarm, du siehst schon das Dorf, das sich an einen Hügel schmiegt, hierher hast du dich gesehnt. Hältst du das Steuer wirklich fest in der Hand auf der Fahrt durch das Knochenland?

Du liegst nackt in der Nähe eines Flughafens im hohen Gras und rauchst eine Zigarette. Nur wenige Meter über dir ein Flugzeug im Abflug, wie eine Fahne im Wind dein Haar. Ist das ein Traum? Die Himmelsschlange regt sich, nun ist die Welt nicht mehr ihr Traum, sondern wird dahingefegt von ihrem gewaltigen Erwachen.

Wenn dieser Traum ein Spiel wäre, wären die Würfel längst gefallen und du müsstest durch das geheime Tor in eine andere Dimension springen, bevor das Portal sich wieder schließt für hundert Feenjahre. Wenn der nächste Narr den Ruf des Abenteuers vernimmt, könnte er in einen neuen Zyklus eintreten, ins Meer der Gefahren springen und würde von den Strudeln davongewirbelt werden aus diesem Fegefeuer, in einem Farbenwirbel aus Blau, Gelb und Schwarz, und schon wäre er dort in jener Nacht im Jahre 1889, als die Zypressen so standhaft in den Himmel ragten vor dem Sternenhimmel, der in alle Seelen gesunken ist wie Schlamm auf den Grund eines Seerosenteichs.

Es ist so leicht, in ein Bild hineinzugehen, eine neue Traumtür zu öffnen, aber wie kommst du wieder heraus? Wo ist die Tür hinaus aus diesem Alptraum? Wo ist dein Stern in dem am Himmel ausgebreiteten Traumfeuer?

Wenn du keine Tür findest, kannst du auch das Fenster öffnen und so viel Licht hereinlassen, dass das verstaubte Monster im Mondlicht zittert. Du musst nur dein Denken erweitern, die Gedanken sind frei beweglich: Du bist so frei: Komm, heiliger Geist, lass den Glanz deiner Herrlichkeit erstrahlen und mach die Gitterstäbe des Gedankenkäfigs ganz weit, so weit, dass der Vogel davonfliegen kann, bis zur Kirche auf dem Berg. Der Himmel ist orange und singt ein Muster aus Laserlinien in der Luft, du lässt dich vom Sturm erfassen, mit hoch erhobenen Händen. Du erkennst in den Bergen unter dir einen friedlichen Alien, auf seinen Augenbrauen Weingärten, auf seinen zerfurchten Zähnen Geröll und verkrüppelte Latschen, seine Augen grüne Seen, sein Atem wogender Wald.

Das Kaleidoskop der Schlaflosigkeit steht plötzlich still, die Stimmen im Kopf sind verstummt. Kann ein Morgen so leicht sein wie ein Spinnwebfaden? Du bist ganz nah am Dorf, der Kirchturm glitzert im Morgenlicht. Lass diese Reise zu Ende gehen: Du darfst ruhen im Schatten der Zypresse, die oh so tröstlich in den Himmel ragt. Der Alien trägt seine Riesenschlange wie einen Umhang, den Kopf der Schlange fest in der Hand, wie ein lebendiges Zepter, und wieder schließt sich ein goldener Kreis. Der Kormoran schläft in der Zypresse und träumt davon, der blauen Schlange am Kopf herumzutanzen, so lange, bis sie sich zu einer Lemniskate legt.

Was du in deinen Träumen über das Fliegen gelernt hast, möchtest du deinem Vater erzählen. Aber beim Aufwachen weißt du sofort: Du kannst ihn nicht mehr anrufen, denn seine Urne wartet in der Aufbahrungshalle. Du kannst ihm nicht mehr erzählen, was dich begeistert.

Diese Gespräche mit deinem Vater dürfen doch nie aufhören! Deshalb nimmst du jetzt den Stift in die Hand und schreibst den Traum weiter, schreibst deine Briefe weiter, denn du hältst das Steuer fest in der Hand auf der Fahrt durch das Knochenland.

Übermale die Nacht mit einem kräftigen Pinselstrich, frag dich nicht länger, wo die Schlangen schlafen. Mach dir dein eigenes Bild, mach dir die Sternennacht zu eigen. Mit Schere und Klebstoff rückst du den Bildern zu Leibe, Bild um Bild, setzt sie neu zusammen, das Blau, die Schlange, den Alien, die Kirche, die Zypresse, den Mond, die Sterne, du setzt dich neu zusammen, denn du hältst das Steuer fest in der Hand auf der Fahrt durch das Knochenland.

Aus dem Kind ist eine Frau mit grauen Haaren geworden. Sie sitzt in der offenen Tür, mit Blick in den Garten. In ihrem Schoß liegt das Buch, in das sie all die Träume geschrieben hat, all die Türen in tausende Welten, zwischen den Deckeln eines Buches. Das Licht des Vollmonds zaubert etwas Silber in die Schattierungen von Blau bis Grau. Die Zypresse schimmert im illuminierten Schwarz, die Kirchenglocken rufen zur Totenmesse.

In der Nacht nach dem Begräbnis deines Vaters träumst du, dass du damit beginnst, seine Wohnung auszuräumen. In seinem Schreibtisch findest du die Briefe, die du ihm als Kind geschrieben hast. Im Bücherregal, in der zweiten Reihe hinter den Büchern zu alternativen Heilmethoden und der spirituellen Blickweise auf die Krebserkrankung, entdeckst du einen alten Bildband über Van Gogh, die Sternennacht in all ihrer Pracht am Umschlag. Als du dir in der Küche ein Glas Wasser holen möchtest, steht

da dein Vater am Herd, er ist jung und gesund, lächelt dir zu und sagt: Das ist ein Traum!

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