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Hingerichtet und verschwiegen
Der SS-Geheimdienstchef von Wien und seine Kinder. Mehr als sieben Jahrzehnte lang haben die Kinder und Enkelkinder des SS-Obersturmbannführers Friedrich Polte kaum etwas gewusst über seine Funktionen in der SS und über die Gründe für seine Hinrichtung als Nazi-Kriegsverbrecher in Belgrad. Selbst ob es ein Urteil gab, war ihnen nicht bekannt. Sein Enkel Bernt Koschuh hat sich auf Spurensuche begeben - in Archiven, in Interviews und in verschlüsselten Briefen Poltes aus der Gefangenschaft.
20. April 2024, 02:00
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Hörbilder | 23 03 2024
Dass ihr Vater nach Kriegsende hingerichtet wurde und nicht mehr am Leben ist, wurde Poltes Kindern rund zehn Jahre lang verheimlicht. „Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich jeden Tag im Abendgebet den Vater miteingeschlossen habe, mit den Worten: Lieber Gott, lass den Vati bald wieder kommen“, sagt sein Sohn - interviewt für ein "Ö1 Hörbild" von Polte-Enkel und ORF-Redakteur Bernt Koschuh. Ein anderer Enkelsohn dachte bis vor wenigen Jahren noch, der Großvater sei im Krieg gefallen.
„Ich möchte wissen, was passiert ist. Weil ich es mir sehr schlimm vorstelle. Und es ist schlimmer, das Ungewisse zu fürchten, als die Tatsache akzeptieren zu lernen.“
Almut Koschuh, geborene Polte, älteste Tochter von SS-Obersturmbannführer Friedrich Polte.
BERNT KOSCHUH
SS-Geheimdienstchef in Wien und Berlin
Polte war Chef des SD, des „Sicherheitsdiensts des Reichsführers SS“ in den zwei wichtigsten Städten des Dritten Reichs – Wien und Berlin. Als Führer des SD-Leitabschnitts Wien ab Kriegsbeginn 1939 und als Führer des SD-Leitabschnitts Berlin ab Mitte 1941 war er lokaler Geheimdienstchef und Chef einer Elite-Einheit innerhalb des Eliteordens SS. Der Sicherheitsdienst war zuständig für die Informationssammlung über „politische Gegner“, für Nachrichtendienst und Berichte über die Stimmung in der Bevölkerung. Er hat maßgeblich zur Judenvertreibung beigetragen und hat die Gestapo nationalsozialistisch und antisemitisch geschult.
BERNT KOSCHUH
Friedrich Polte, stehend in SS-Uniform als Sturmbannführer, vermutlich Ende 1939. Das Bild stammt aus Akten des SS-Rasse- und Siedlungshauptamts (RuSHA), die im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde aufbewahrt werden.
Mit dem Einsatzkommando nach Österreich
Friedrich (Fritz) Polte stammte aus Niedersachsen. Mit dem „Anschluss“ 1938 kommt er nach Wien als Mitglied des „Einsatzkommandos Österreich“. Dessen Auftrag war das Verhaften und Ausschalten von politisch aktiven Katholiken, Kommunisten, Sozialdemokraten, Freimaurern und vor allem Juden – das erfolgte in Zusammenarbeit von SD und Gestapo.
1939 unterzeichnet Polte den SD-Bericht an die Reichsführung über die Novemberpogrome in der Ostmark – von den Nazis Reichskristallnacht genannt. „Binnen 3 Stunden waren sämtliche Synagogen Wiens, 42 Synagogen, in Brand gesetzt oder zerstört“, steht da. Und, besonders tragisch: „Seit Beginn der Aktionen in Wien sollen von den Juden etwa 680 Selbstmorde verübt worden sein.“
Ein liebevoller Vater
In Wien lernt Polte seine Ehefrau Traudl kennen. Im Oktober 1940 kommt im SS-Heim „Lebensborn Wienerwald“ das erste Kind zur Welt, Almut, die Mutter von ORF-Redakteur Bernt Koschuh. Die Eltern nennen sie „Hasi“ und kümmern sich liebevoll um sie. Fritz Polte schreibt – auch noch als die Tochter älter ist - fleißig in ein Kinder-Tagebuch:
„Hasi sagt viel Bitte und Danke. Das Verabschieden ist immer sehr nach Etikette - vom Baba, Handi-Geben, Heil Hitler! das sie längst, und zwar von selbst kann - bis zum Bussi wird alles durchprobiert. Die Verabschiedung von mir morgens geschieht so: erst große Verabschiedung an der Tür. Dann rennt sie zur Treppe und ruft immer lauter winkend: Fenster! Vom Fenster erfolgt dann der letzte Abschied - oder vom Balkon. - Wehe, wenn Vati das vergisst!“
„Vollstes Verständnis für die Judenaktion“
An den Judendeportationen aus Wien 1939 und 1941 war Polte zwar nicht unmittelbar beteiligt, er hat in einem Aktenvermerk aber geschrieben: „Für die meisten Sonderaktionen hätten wir ja vollstes Verständnis und würden sogar gerne dabei mitmachen. Dies gilt zB für die Judenaktion.“ Recherchen im österreichischen Staatsarchiv ergeben: Eine zentrale Aufgabe des SD-Leitabschnitts in Wien war es, Juden zu tyrannisieren und zu gängeln, um ihnen das Leben in der Ostmark unmöglich zu machen. Ein Beitrag zur Vertreibung.
„Ich fühle mich wahnsinnig mitschuldig. Das ist ein großes Thema in meinem Leben, welch schreckliches Leid Menschen angetan wurde und dass er mitgemacht hat.“
Eine Enkelin von SS-Obersturmbannführer Polte
Aus Wien „verbannt“
Im Jahr 1941 legt sich Friedrich Polte als Wiener SS-Geheimdienst-Chef mit dem Gauleiter von Wien, Baldur von Schirach an. Polte misstraut Schirach und versucht ihn auszuspionieren und an seine persönliche Korrespondenz zu gelangen. Schirach reagiert mit einer einzigartigen Machtdemonstration und erteilt Polte einen „Gauverweis“. Der SD-Leitabschnittchef Polte muss Wien verlassen.
BERNT KOSCHUH
Im März 1941 muss Friedrich Polte den Gau Wien verlassen. Denn der Reichsstatthalter und Gauleiter Baldur von Schirach erteilt dem Wiener SS-Geheimdienstchef Polte einen "Gauverweis". Polte hatte unter anderem versucht, Schirach auszuspionieren und an Schirachs Privatkorrespondenz zu gelangen. In diesem Aktenvermerk wird Ernst Kaltenbrunner zitiert, der diesen Gauverweis miterlebt hat. Nach dem Gauverweis wird Polte als Vizechef der Einsatzgruppe Jugoslawien nach Belgrad kommandiert.
Gestapo-Vizechef in Jugoslawien
So wird Polte mit Beginn des „Jugoslawien-Feldzugs“ nach Belgrad kommandiert. Dort ist er für drei bis vier Monate „Vizechef der Einsatzgruppe Jugoslawien“ und damit eine Art Gestapo-Vizechef. Der späteren Anklage gegen Polte vor dem Militärgericht Belgrad zufolge fallen in diese Zeit Folterungen, standrechtliche Erschießungen von Kommunisten und Juden, Hinrichtungen durch Erhängen auf einem Platz in Belgrad und der Transport jüdischer Emigranten in das Konzentrationslager in Šabac.
Das Todesurteil
Nach Kriegsende taucht Fritz Polte in Deutschland unter und arbeitet unerkannt auf einem Bauernhof. Doch als er nach Hamburg reist, um eine Bekannte zu treffen, wird er verhaftet. Er kommt in ein britisches Gefangenenlager in Deutschland. Im August 1946 liefert ihn Großbritannien an Tito-Jugoslawien aus. Er ist Drittangeklagter unter 22 Angeklagten im „Einsatzgruppenprozess“ am Militärgericht Belgrad. Ende 1946 wird er zum Tod durch Erhängen verurteilt - als nationalsozialistischer Kriegsverbrecher und „Mitorganisator des Terrorapparats der deutschen Polizei mit dem Ziel Juden auszurotten und die slawischen Völker zu versklaven“. Insgesamt werden in diesem Prozess 18 Deutsche zum Tod verurteilt.
Das lange Schweigen
Poltes Kinder erfahren jahrelang nichts vom Tod ihres geliebten „Vati“. Er sei vermisst, sagen Mutter und Großeltern. Poltes älteste Tochter Almut erzählt, sie habe erst mit 17 - rund zehn Jahre nach der Hinrichtung - ein Schreiben vom Roten Kreuz entdeckt. Darin wurde die Familie 1948 informiert, dass Polte erhängt wurde.
„Das ist wohl symptomatisch für traumatisierte Familien - das Trauma nicht anzusprechen, weil es nicht bewusst ist oder so wehtut, dass man deshalb nicht darüber spricht."
Eine Enkelin von SS-Obersturmbannführer Fritz Polte
NACHLASS TRAUDL POLTE
„Ich fühle mich mitschuldig“
Bezeichnend für solche Familiengeschichten ist ein Dialog zweier Polte-Enkelinnen: A: „Ich fühle mich wahnsinnig mitschuldig. Das ist ein großes Thema in meinem Leben, welch schreckliches Leid Menschen angetan wurde und dass er mitgemacht hat.“ B: „Ja aber du bist Jahrzehnte später erst geboren. Schuld hat man nur, wenn man Verantwortung dafür übernehmen kann.“ A: „Es lastet trotzdem schwer auf meinen Schultern.“ B: „Ich glaube, das ist einfach ein Trauma für die ganze Familie.“ A: „Ja, aber auch weil nie eine Aufarbeitung stattgefunden hat.“ B: „Das ist, denke ich, symptomatisch für traumatisierte Familien - das Trauma nicht anzusprechen, weil es nicht bewusst ist oder so wehtut, dass man deshalb nicht darüber spricht."
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„Den Vati kindlich lieben“
Die Einzige, die sich noch konkret an ihren Vater erinnern kann, ist seine älteste Tochter Almut. Sie sagt heute: „Ich kann den Vati noch immer kindlich lieben und das trennen von seinem Schicksal, dass er in dieses System geraten ist, und auch hinein wollte - dieses verachtenswerte System, das kann ich davon trennen. Aber das war lange Arbeit und ich war in vielen Seminaren und bei Familienaufstellungen. Und es ist natürlich noch immer äußerst, äußerst schmerzlich. Ich bin sehr traurig über seinen Lebensweg.“