Farm Hall, Godmanchester

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Die Entführung zehn deutscher Atomwissenschaftler

Im April 1945 werden Deutschlands zehn führende Atomwissenschaftler von den amerikanischen Alliierten entführt. Die erste Kernspaltung hat in Deutschland stattgefunden. Noch ist nicht bekannt, wie weit die Entwicklung einer deutschen Atombombe gediehen ist. Es wird befürchtet, die Deutschen könnten ihr Wissen zu den Falschen tragen. Die Operation Epsilon nimmt ihren Lauf.

Die Entdeckung der Kernspaltung

Kurz vor Weihnachten 1938 macht Otto Hahn (mit seinem Assistenten Fritz Straßmann) ein Experiment, das Rätsel aufgibt. Die Deutung liefert seine langjährige Kollegin Lise Meitner (unterstützt von ihrem Neffen Otto Robert Frisch, ebenfalls Physiker), zu der Zeit bereits im schwedischen Exil und dort, wie sie schreibt, „in der Wüste gelandet“. Meitner erkennt nach kurzer Überlegung aus der Ferne: Nach vielen Jahren gemeinsamen Forschens ist Otto Hahn die erste Kernspaltung gelungen. Eine wissenschaftliche Sensation, die sich in den nächsten Wochen weltweit verbreitet.

Operation Epsilon – Jagd auf Deutschlands Atomgeheimnisse

Ein Wettlauf um die Entwicklung der Atombombe beginnt. Wie weit sind die Deutschen damit? Zur Beantwortung dieser Frage wird 1944 Alsos gegründet, eine Mission des amerikanischen Geheimdiensts. Noch vor Kriegsende, im April 1945, bringen die amerikanischen Alliierten mit Unterstützung der Briten den deutschen Atomreaktor in ihre Gewalt und verhaften die zehn führenden Atomwissenschafter Deutschlands, bevor sie mit ihrem Wissen zu den Falschen, den Russen, gehen können. Unter ihnen die Nobelpreisträger Werner Heisenberg und Max von Laue, Otto Hahn, Carl Friedrich von Weizsäcker. Schnell stellt sich heraus, dass die Sorge überflüssig war. Die deutsche Atombombe ist eine Fata Morgana. Die deutschen Wissenschafter stehen nicht unter Anklage, sie sind keine Kriegsverbrecher, aber gefährliche Geheimnisträger. Die Operation Epsilon nimmt ihren Lauf.

Zehn Physiker unter streng geheimer Beobachtung

Nahe der englischen Stadt Godmanchester befindet sich das Landgut Farm Hall. Unter strikter Geheimhaltung werden die zehn Männer dort untergebracht. Ein englisches Gesetz erlaubt, Personen im Krieg bis zu sechs Monate ohne Begründung festzuhalten: „Detained as guests of His Majesty“, wird den Gefangenen erklärt. Ihre Familien dürfen sie nicht verständigen.
Das alte Landhaus ist gemütlich ausgestattet. In jedem Raum hängen Gemälde. Dahinter versteckt: Mikrofone. Jedes Gespräch wird aufgezeichnet, transkribiert und ins Englische übersetzt. Die sogenannten Farm-HallProtokolle entwerfen ein lebendiges Bild einer Gruppe im existenziellen Ausnahmezustand. Zwar können sie ihren Tagesablauf frei gestalten und werden bestens verpflegt, aber die Situation ist beklemmend. Ahnen sie wirklich nicht, dass sie abgehört werden? Auffällig oft werden die Unterhaltungen ins Freie verlegt: „Gehen wir zum Rosenbeet?“, lautet eine wiederkehrende Frage.

Ein Nobelpreis hinter verschlossenen Türen

In Farm Hall, abgeschnitten von ihrer Heimat, ihren Familien, erfahren die Deutschen vom Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Sie reagieren mit Unglauben, Bestürzung, Otto Hahn denkt sogar an Selbstmord, er klagt sich als Schuldigen dieser Weltkatastrophe an. Wenige Monate später erhält Hahn für die gelungene erste Atomspaltung den Chemie-Nobelpreis, darf aber nicht zur Verleihung.

Die Frau hinter der Kernspaltung

Am 3. Jänner 1946, exakt sechs Monate nach ihrer Einreise, reisen die Atomwissenschafter nach Deutschland zurück. Lise Meitner, die den Krieg unter erbärmlichen Bedingungen in Schweden verbracht hat, schreibt Otto Hahn einen langen, mahnenden Brief. Die Mehrheit der Wissenschafter waren keine Nazis, doch sie schwiegen und nun, nach dem Krieg, wollen sie nichts als vergessen und über ihre zerstörte Heimat klagen. In Stockholm, wo Hahn mit einem Jahr Verspätung den Nobelpreis in Empfang nimmt, begegnen sich „Lieschen“ und „Hähnchen“ zum ersten Mal wieder. Sie hält ihm vor, dass er ihren Anteil an der Entdeckung der Kernspaltung nicht erwähnt, er verteidigt sich damit, dass sie in Amerika als „jüdische Mutter der Atombombe“ gefeiert wird. Trotz dieses Konflikts bleiben die beiden bis zu ihrem Tod verbunden. Lise Meitner kehrt nicht mehr in ihr „missratenes Lieblingskind“ Deutschland zurück, in ihre Heimat Österreich nur, um Urlaub zu machen. Der Nobelpreis bleibt ihr auch nach 49 Nominierungen verwehrt. 1994 wird ein radioaktives Element nach ihr benannt: das Meitnerium.