Gedanken für den Tag
"Tage der Besinnung, des Innehaltens und der Versöhnung". Von Hannah Lessing
15. September 2010, 06:57
Hannah Lessing ist Generalsekretärin des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus und gläubige Jüdin.
Mit dem Neujahrsfest Rosch Haschana beginnt für Jüdinnen und Juden das neue Jahr und die "zehn Tage der Umkehr". Nach jüdischer Überlieferung wird - so die Symbolik - das Buch des Lebens vor dem Richterstuhl Gottes aufgeschlagen. In diesem Buch sind die Taten der Menschen festgehalten. Am ersten Tag, d. h. am Neujahrstag, wird das Urteil geschrieben, und am zehnten Tag wird es besiegelt, lehrt der jüdische Glaube. Dies ist der Versöhnungstag "Yom Kippur". Die zehn Tage sollen den Menschen die Möglichkeit geben zur Selbstbesinnung, zur Reue über unrechte Taten und zur Bitte um Versöhnung bei den Mitmenschen, denen man Böses angetan hat. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.
Zu Rosch Haschana, dem jüdischen Neujahr, ertönt das Schofar. Das Schofar ist ein einfaches Widderhorn, sein Ton ist klagend und ernst. Es ist ein sehr persönlicher und berührender Ton, der Gefühle jenseits der Sprachlichkeit zum Ausdruck bringt - ein Sinnbild des ursprünglichen Rufens aus den Tiefen der Seele. Der Ton des Schofar soll den Menschen wecken, ihn aus seiner Gleichgültigkeit und Lethargie reißen und zu sich selbst rufen.
Rosch Haschana ist auch der Beginn der "Zehn Tage der Tschuwa", die am Samstag Abend in Jom Kippur ihren Abschluss finden. Tschuwa bedeutet nichts anderes als Rückkehr zu sich selbst - für gläubige Jüdinnen und Juden ist das gleichbedeutend mit einer Rückkehr zu G-tt.
Der Philosoph und bedeutendste jüdische Rechtsgelehrte des Mittelalters, Rabbi Mosche ben Maimon, genannt Maimonides, beschreibt die Botschaft des Schofar so: "Wacht auf, ihr Schläfer, aus eurem Schlummer, und denkt über euer Tun nach. Denkt an euren Schöpfer, und kehrt reumütig zu ihm zurück. Seid nicht bei denen, die Schatten nachjagen und die Wirklichkeit nicht sehen und ihre Jahre vergeuden, indem sie nach wertlosen Dingen streben."
Damit erinnert er an den Geist der Zeit von Rosch Haschana - die Besinnung auf das Wesentliche: Sich auf das Wesentliche zu besinnen ist etwas, was jedem Menschen von Zeit zu Zeit gut tut, ganz unabhängig von seiner Religion oder Weltanschauung.
Bei unserer Arbeit im Nationalfonds sind es oft die berührenden Geschichten von Verfolgung und Verlust, die uns die Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz immer wieder vor Augen führen.
Für all jene Menschen, denen es glücklicherweise erspart geblieben ist, durch derart schreckliche Erfahrungen auf die Frage nach dem Wesentlichen gestoßen zu werden, bieten Auszeiten wie Rosch Haschana und die Zehn Tage der Tschuwa die Chance, schon jetzt - rechtzeitig - darüber nachzudenken, ob wir dem Wesentlichen genug Platz einräumen in unserem Leben, oder ob wir Schatten nachjagen.
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