Gedanken für den Tag
von Anna Mitgutsch. "Fremd seid ihr gewesen"
27. August 2011, 06:56
Anna Mitgutsch, österreichische Schriftstellerin und Mitglied der jüdischen Kultusgemeinde in Linz, entfaltet in den "Gedanken für den Tag" das biblische Bild von Gott, der mit seinem Volk in die Fremde zieht und so selbst zum Fremden wird.
"Gehe aus deinem Land und aus deinem Geburtsort und aus dem Haus eines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde", sagt Gott im biblischen Buch Genesis zu Abraham. Eine Emigration aus religiösen Gründen, ein Weg ins Ungewisse, wie ihn alle Emigranten zu allen Zeiten vor sich hatten. Gerade aus dieser eigenen Erfahrung des Fremdseins rühren auch viele der biblischen Handlungsanleitungen für den Umgang mit Fremden. In der Erzählung von Ruth wird die Fremde, die Moabiterin, zur Stammmutter des Davidischen Königsgeschlechts, aus dem der Messias hervorgehen soll.
Solche scheinbaren Unvereinbarkeiten auszuhalten sind für Anna Mitgutsch eine Vorbedingung dafür, Anderssein nicht nur zu tolerieren, sondern als Gewinn und als Horizonterweiterung zu sehen.
Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.
"Wohin du gehst, gehe ich, und dein Gott ist mein Gott".
Die Fremde, an die man im Zusammenhang mit der Bibel zuerst denkt, ist Ruth, die Moabiterin. Naomi, ihre spätere Schwiegermutter, geht mit ihrem Mann und ihren Söhnen in die Fremde, auf der Flucht vor einer Hungersnot, ins Land Moab. Sie ist also aus heutiger Sicht ein Wirtschaftsflüchtling. Als Naomis Mann und ihre Söhne gestorben sind, kehrt sie in ihre Heimat zurück und schickt ihre Schwiegertöchter fort. Ruth lässt sich jedoch nicht fortschicken und mit den oft zitierten Worten: Wohin du gehst, gehe ich, und wo du weilst, weile ich; dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott, folgt sie Naomi in die Fremde. Der Gutbesitzer Boas begegnet ihr mit Freundlichkeit, die sich nicht nur auf Ruth als junge Frau bezieht. Sie ist auch die gesetzlich gebotene Verhaltensweise gegenüber Fremden. Sympathie, das spontane Gefühl der Zuneigung kann Fremdheit im Einzelfall überbrücken, aber erst auf dem Fundament ethischer Verpflichtung und Verantwortung werden Rechte allgemeingültig und einklagbar. Ruth ist die Fremde, die Moabiterin, und zugleich Stammmutter des Davidischen Königsgeschlechts, aus dem der Messias hervorgehen soll. Solche scheinbaren Unvereinbarkeiten auszuhalten, ist eine Vorbedingung dafür, Anderssein nicht nur zu tolerieren, sondern als Gewinn und als Horizonterweiterung zu sehen. Indem ich die Welt des Fremden als eine vorstellbare, mir jedoch unbekannte, anerkenne, verliert meine Welt ihre Absolutheit und wird eine Möglichkeit unter anderen. Ich erfahre Pluralismus als Weltgewinn. Ich kann meinen Erfahrungshorizont auf andere Welten öffnen, die ich zwar nicht besitze, deren Reichtum ich aber wertschätzen und als gleichwertig anerkennen kann.
Service
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Sendereihe
Playlist
Titel: GFT 110827 Gedanken für den Tag / Anna Mitgutsch
Länge: 03:49 min