Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell. "Ende eines Sommers"

"Die Pfirsiche sind geerntet, die Pflaumen färben sich, / während unter dem Brückenbogen die Zeit rauscht" (Günter Eich).

Landschaften, Gerüche, Kindheitserinnerungen - die erste Ernte, die letzten Badetage und die Einsicht, dass der Sommer zur Neige geht. Der Literaturkritiker und Übersetzer Cornelius Hell macht sich sehr persönliche Gedanken über die zweite Hälfte des Sommers, des Jahres und des Lebens.
Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.

"Die Pfirsiche sind geerntet, die Pflaumen färben sich, / während unter dem Brückenbogen die Zeit rauscht." Diese zwei Zeilen aus Günter Eichs Gedicht "Ende eines Sommers" sagen es in einem Satz: Die Farben, die sich im Herbst in Früchte und Blätter ergießen, machen einem bewusst, dass die Zeit vorbeirauscht wie ein Fluss. Vor allem aber habe ich den Beginn dieses Gedichts seit Jahren in den Ohren: "Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume! / Wie gut, daß sie am Sterben teilhaben!"

Bäume sind ein Symbol beständiger Dauer, tausendjährige Eichen oder mehrhundertjährige Linden bringen das symbolisch zum Ausdruck. Sie sind ein Trost, weil ihre Dauer weit über ein Menschenleben hinausgeht. Und weil auch sie nicht ewig sind und schon durch den herbstlichen Blätterfall am Sterben teilhaben. Sonst würde ihre Dauer zum Symbol zynischer Gleichgültigkeit der Natur. "Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume! / Wie gut, daß sie am Sterben teilhaben!" Als meine Mutter im Vorjahr verstorben ist, habe ich mich wieder an diese Gedichtzeilen erinnert und ihr ein Grab unter einem Baum ausgesucht. Mit dieser Birke ist der Frühling wieder zu ihr gekommen, und schon bald werden deren gelbe Blätter ihr Grab bedecken.

Meine Mutter hat in den Jahreszeiten gelebt. Solange sie konnte, hat sie Beeren gepflückt, und meine Kindheit kann ich mir nicht vorstellen ohne ihre Säfte und Marmeladen. In ihren letzten Jahren hat sie im Herbst schon immer an den Frühling gedacht. "Wenn ich den noch erlebe, dann geht's schon wieder", hat sie gemeint. Sie hat den Gedichtband "Hamlet, Hiob, Heine" von Peter Henisch nicht gekannt, aber seine letzten Zeilen hätten ihr bestimmt gefallen:

Wir hoffen aufs Überlieben
genau wie wir glauben
an die Auferstehung
des Laubes

Jede Jahreszeit hat ihren Wert in sich - aber vor allem dadurch, dass die Jahreszeiten einander ablösen. Der Winter ist erträglich in der Vorfreude auf den Frühling, die Sommerhitze, weil einmal doch Abkühlung kommt, und die Farben des Herbstlaubes sind noch schöner, weil wir wissen, dass nach dem Schnee wieder neue Blätter hervorbrechen werden.

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Titel: GFT 110902 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 03:48 min

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