Gedanken für den Tag

von Manfred Scheuer. "Einbrechen in die Felder der Gewohnheit"

Der Advent kann eine Aufbruchszeit sein, eine Einladung, der Hoffnung auf der Spur zu bleiben und mit der Verheißung Gottes zu rechnen, ist der Theologe und katholische Bischof Manfred Scheuer überzeugt.

Wem dies gelingt, der oder die wird hellhörig für das, was andere wirklich zu sagen haben, ein Mensch, der aufnahmefähig und bereit ist, selbst mitten im Lärm die leisen Botschaften mitschwingen zu hören. Solche hörende Menschen werden dann vielleicht auch die Botschaften wahrnehmen, die die biblischen Adventtexte enthalten, sie werden sich anregen und infrage stellen lassen. Und vielleicht werden sie aufbrechen aus dem allzu Gewohnten, dem allzu Eingefahrenen.

"Wenn die Propheten einbrächen durch Türen der Nacht, mit ihren Worten Wunden reißend, in die Felder der Gewohnheit, Ohr der Menschheit würdest du hören?", so drückt der Bischof mit der Dichterin Nelly Sachs die radikale Anfrage aus.
Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.

Selbstverwirklichung und Hingabe

In den vergangenen 40 Jahren wurde die Liebe auf die Couch gelegt, und zwar sowohl die Liebe im Zusammenhang mit Eros und Sexualität als auch die Nächstenliebe, z. B. in der Sozialarbeit. Es war viel die Rede von hilflosen Helfern, von notwendiger Abgrenzung. "Liebe" stand unter dem Verdacht, krank zu sein und war tatsächlich eine Patientin. Gesundheit hingegen verband man eher mit dem Egoismus. Der "gesunde Egoismus" ist zu einem Schlagwort geworden, hat aber auch seine Kehrseite: Mehr und mehr ging die Fähigkeit verloren, echte Beziehungen einzugehen und sich einem Miteinander zu öffnen. Ein neues Miteinander der Menschen, das sowohl die globalen, als auch die persönlichen Probleme berücksichtigt, wird von allen Menschen große Lernprozesse erfordern. Zu diesen gehört nicht nur die gegenseitige Achtung und das Wahrnehmen der Bedürfnisse aller, sondern auch Selbstbeschränkung und der Verzicht, damit Leben wachsen kann.

Selbstverwirklichung ist im Licht der Gottebenbildlichkeit eines jeden Menschen zu deuten. So darf das Selbst-Werden nicht als Sünde diffamiert werden. Gott befreit aus dem Teufelskreis der Selbstüberhebung und der Selbstverachtung, er befreit vom Mittelpunktwahn. Ohne den Weg zum Anderen, ohne den Weg der Solidarität und auch des Dienstes finde ich aber auch nicht zu mir selbst. Gelungenes menschliches Leben realisiert sich in der Schwebe und auch in der dramatischen Spannung zwischen Freiheit, Selbstannahme und Selbstlosigkeit. Selbstverwirklichung, Nächstenliebe und Gottbegegnung sind aus der Perspektive des Glaubens betrachtet sicher unterschieden, aber ein einziger Vorgang. Die Wahrheit dieses Vorgangs steht und fällt, ob alle drei Aspekte realisiert werden: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." (Mk 12, 33), wie es im Ersten und im Neuen Testament der Bibel heißt.

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Titel: GFT 111203 Gedanken für den Tag / Manfred Scheuer
Länge: 03:49 min

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