Menschenbilder

"Ich war immer Schreyer" - Der polnisch-jüdische Musiker Alfred Schreyer im ukrainischen Drohobytsch. Gestaltung: Cornelius Hell

Der neunzigjährige Musiker Alfred Schreyer aus der galizischen Kleinstadt Drohobytsch (60 km von Lemberg/Lviv gelegen) hat in seinem Leben fünfmal den Staat gewechselt: Bei seiner Geburt am 8. Mai 1922 gehörte die Stadt zu Polen, im September 1939 wurde sie von Nazi-Deutschland eingenommen, im Oktober von der Sowjetunion, im Juni 1941 begann die zweite deutsche Besatzung, von 1945 bis 1991 gehörte sie zur Sowjetunion und seit deren Auflösung ist sie Teil der Ukraine.

Schreyer ist der letzte lebende Schüler des legendären Schriftstellers Bruno Schulz, der im Drohobytsch der Zwischenkriegszeit sein Zeichenlehrer war; und der letzte Jude in Drohobytsch, der den Zweiten Weltkrieg überlebt hat. Seine Eltern - der Vater war Chemiker, die Mutter Apothekerin - wurden von den Nazis ermordet. Alfred Schreyer selbst hat Ghetto, Zwangsarbeitslager und die Konzentrationslager Krakau-Plaszow, Groß-Rosen, Buchenwald und dessen Außenlager Taucha bei Leipzig überlebt.

Am 8. Mai 1945, der als Ende des Zweiten Weltkriegs gilt und sein 23. Geburtstag war, wog er nur mehr 39 Kilo und hatte Wasser in den Beinen. Auf dem Todesmarsch hatte er sich in einen Straßengraben retten können, ein Hitlerjunge hatte ihn auf dem Fahrrad ins nächste Dorf mitgenommen.

Nach einer Zeit als Dolmetscher bei den sowjetischen Truppen kam Alfred Schreyer 1946 über Weißrussland wieder nach Drohobytsch zurück. Er lebte als Geiger und Sänger, heiratete 1949 und konnte über 40 Jahre die Ukraine nicht verlassen. Nie war er Mitglied der Kommunistischen Partei oder einer ihrer Vorfeldorganisationen. "Ich war immer Schreyer", konstatiert er lapidar.

Seit 1993 leben seine beiden Kinder mit ihren Familien in Deutschland; Alfred Schreyer und seine Frau Ludmilla konnten sich nicht entschließen, ihre Heimat zu verlassen. Die Frau ist vor einigen Jahren gestorben. Alfred Schreyer tritt mit seiner Gruppe noch immer als Musiker auf: gelegentlich führt er Besucher durch Drohobytsch und zeigt den Bruno-Schulz-Gedenkraum an seiner ehemaligen Schule, der heutigen Universität, sowie die Stelle, an der Bruno Schulz erschossen wurde. Und er erklärt die Ruinen der Synagoge und erzählt sein Leben.

Am 9. März hat der Film "Der letzte Jude von Drohobytsch" von Paul Rosdy Premiere in den österreichischen Kinos.

Service

Der Film über Alfred Schreyer hat am 9. März in Österreich Kinopremiere.
Der letzte Jude von Drohobytsch

Von Alfred Schreyer gibt es verschiedene Aufnahmen auf YouTube
Konzert in Lemberg
Konzert in Krakau


Bücher von Bruno Schulz:

Die Zimtläden.Aus dem Polnischen von Doreen Daume. Mit einem Essay von David Grossman. dtv Taschenbücher, München 2009.

Das Sanatorium zur Sanduhr. Aus dem Polnischen von Doreen Daume. Carl Hanser Verlag, München 2011

Die Wirklichkeit ist Schatten des Wortes. Aufsätze und Briefe. Aus dem Polnischen von Joseph Hahn und Mikolaj Dutsch. dtv Taschenbücher, München 2000

Das graphische Werk. dtv Taschenbücher, München 2000

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