Gedanken für den Tag

von Sunnyi Melles. "Die Bühne in mir" - Gedanken rund um den Welttheatertag. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Die bekannte Schaupielerin Sunnyi Melles steht derzeit gerade als Ariel in Woody Allens "Mittsommernachts-Sex-Komödie" auf der Bühne des Wiener Burgtheaters. Rund um den Welttheatertag, der jedes Jahr am 27. März begangen wird, hat sie für die "Gedanken für den Tag" Texte ausgewählt über das Leben mit, auf und abseits der Bühne.

1928 hat Max Reinhardt einen Vortrag an der Columbia University in New York gehalten: Rede über den Schauspieler.

Der Mensch empfindet gewöhnlich einmal im Leben die ganze Seligkeit der Liebe, einmal den Jubel der Freiheit, er hasst einmal gründlich, er begräbt einmal mit tiefem Schmerz ein geliebtes Wesen und stirbt am Ende einmal selbst. Das ist zu wenig für die uns eingeborenen Fähigkeiten, zu lieben, zu hassen, zu jubeln, zu leiden. Wir turnen täglich, um unsere Muskeln, unsere Glieder zu stärken, damit sie nicht einschrumpfen. Aber unsere seelischen Organe, die doch für eine lebenslängliche Arbeit geschaffen sind, bleiben ungebraucht, untrainiert und verlieren daher mit der Zeit ihre Leistungsfähigkeit.

Unsere Erziehung freilich arbeitet dem entgegen. Ihr erstes Gebot heißt: Du sollst verbergen, was in dir vorgeht. So entstehen die sattsam bekannten Verdrängungen, die Zeitkrankheit der Hysterie und am Ende jene leere Schauspielerei, von der das Leben voll ist. Wir haben uns auf eine Reihe allgemeingültiger Ausdrucksformen geeinigt, die zur gesellschaftlichen Ausrüstung gehören. Diese Rüstung ist so steif und eng, dass eine natürliche Regung kaum mehr Platz hat. Wir haben gebrauchsfertige Mienen der Teilnahme, der Freude, der Würde und das stereotype Grinsen der Höflichkeit, ein gespenstisches Theater gemacht, dessen Gefühlsleere erschreckend ist.

Und doch hängt unsere seelische, geistige, ja, sogar unsere körperliche Gesundheit auch von der unverminderten Funktion dieser Organe ab. Wir spüren unverkennbar, wie ein herzliches Gelächter uns befreien, ein tiefes Schluchzen uns erleichtern, ein Zornausbruch uns erlösen kann. Ja, wir suchen oft mit unbewusster Begierde solche Ausbrüche.

Service

Buch, Max Reinhardt, "Ich bin nichts als ein Theatermann", Verlag Henschel

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Sendereihe

Playlist

Titel: GFT 120328 Gedanken für den Tag / Sunnyi Melles
Länge: 03:50 min

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