Gedanken für den Tag

Von Cornelius Hell. "Manche kommen aus dem Staunen nicht heraus, manche nie hinein" - Zum 80. Geburtstag der Schriftstellerin Elfriede Gerstl. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Elfriede Gerstl, die als Kind mit ihrer Mutter vor den Nazis untertauchte und sich "tot oder schon deportiert stellte", hat im Kohlenkeller zu lesen begonnen, wenn die Sonne selten genug durch den kleinen Lichtspalt der Verdunkelung drang und die Nazis nicht mit Bajonetten nach ihr stocherten.

Jahrzehnte hat es gedauert, bis sie über diese Zeit auch nur in verknappenden Andeutungen gesprochen oder gar geschrieben hat. Ihr war auch hier die Selbstironie näher als das Pathos der Überlebenden. Denn sie war überzeugt: "Alles, was man sagen kann, kann man auch beiläufig sagen." Näher als mancher Glaube, der ihren Widerspruch reizte, war ihr das Staunen: "manche kommen aus dem staunen nicht heraus / manche nie hinein".

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So beginnt Elfriede Gerstls Gedicht "vor einem geburtstag". Und es endet mit der Frage:
ist es zu viel verlangt
sich aufmerksames zuhören
zu wünschen
ein wenig freundlichkeit
und verlässliche freundschaft
Heute wäre Elfriede Gerstl 80 Jahre alt, und wenn sie noch am Leben wäre, würde sie wahrscheinlich dieselben Wünsche äußern. Vor allem den nach Freundschaft. Ein Gedicht vom 20. Februar 2009, zwei Monate vor ihrem Tod, stellt im Titel die Frage: "woher soll jemand der denkt wie ich trost holen". Das Gedicht beginnt mit sarkastischen Reimen über Religionen, Philosophie und Therapie und konstatiert dann:
so wenig emotionale haltegriffe
am ehesten
in den wenigen verlässlichen freundschaften
die keineswegs jedem vergönnt
In manchen ihrer späten Gedichte ist Elfriede Gerstl sehr persönlich geworden. Aber sie wäre nicht die Gerstl gewesen, wenn sie nicht auch das ironisiert hätte. Etwa in dem Zweizeiler:
was ich nicht alles von mir verrate
was ich alles von mir nicht verrate
Sehr spät erst konnte sie ihre traumatischen Kindheitserlebnisse ansprechen. Sie war mit ihrer Mutter vor den Nazis untergetaucht und hatte im Kohlenkeller zu lesen begonnen, wenn die Sonne einmal durch den kleinen Lichtspalt drang und die Nazis nicht mit Bajonetten nach ihr stocherten. Aber auch darüber hat sie nicht mit dem Pathos der Überlebenden gesprochen, sondern eben beiläufig - etwa in folgendem kurzen Dialektgedicht aus dem Jahr 2004:
April 1945
a bissal gfiacht
a bissal gfreit
hauptsach ausn kölla
aussegräud
Beiläufigkeit und Staunen - diese beiden Pole von Elfriede Gerstls Poesie kommen auch zum Tragen, wenn sie von sich selbst spricht. Elfriede Gerstl hat gezeigt, dass man allem mit Staunen begegnen kann - dem Schrecklichen wie dem Schönen.

Service

Buch, Elfriede Gerstl, "Neue Wiener Mischung. Gedichte und anderes", Literaturverlag Droschl
Buch, Elfriede Gerstl, "Mein papierener Garten. Gedichte und Denkkrümel", Literaturverlag Droschl
Buch, Elfriede Gerstl, "Lebenszeichen. Gedichte, Träume, Denkkrümel", Literaturverlag Droschl
Buch, Elfriede Gerstl, "Mittellange Minis. Werke Band 1", herausgegeben und mit einem Nachwort von Christa Gürtler und Helga Mitterbauer, Literaturverlag Droschl
Buch, Konstanze Fliedl, Christa Gürtler (Hg.), "Elfriede Gerstl", Literaturverlag Droschl
Buch, Christa Gürtler, Martin Wedl (Hg.), "Elfriede Gerstl. wer ist denn schon zu hause bei sich", Paul Zsolnay Verlag

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Titel: GFT 120616 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 03:49 min

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