Radiokolleg - Das immerwährende Exil

Zum 100. Geburtstag des Schriftstellers Jean Améry
(1). Gestaltung: Günter Kaindlstorfer

Jean Améry verkörperte einen Typus von Intellektuellen, wie es ihn heute kaum mehr gibt: ein blendender Stilist, ein kritischer Analytiker der Zeitläufe, von der französischen Aufklärung und vom Existenzialismus Sartres geprägt, ein wacher, sensibler, nervöser Geist, der über Foucault und den Strukturalismus ebenso glänzend zu schreiben vermochte wie über seine Erfahrungen als KZ-Häftling in Auschwitz und die moralischen Aspekte des Freitods.

1912 in Wien geboren, emigrierte Hans Mayer, wie er ursprünglich hieß, 1938 nach Belgien. In Brüssel schließt sich der Wiener einer von österreichischen Emigranten gebildeten Widerstandsgruppe an. Im Juli 1943 wird er von der Gestapo verhaftet. Améry trägt verräterische Flugblätter bei sich. Darauf steht: "Tod den SS-Banditen und Gestapo-Henkern". Das Verhängnis nimmt seinen Lauf.

Der Exilant wird zunächst im Gestapo-Hauptquartier in der Avenue Louise verhört, dann ins Konzentrationslager Breendonck, auf halber Strecke zwischen Brüssel und Antwerpen gelegen, transportiert. "Dort geschah es mir", schreibt Améry später: "Die Tortur". Und weiter: "Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt."

Amérys Essay über "Die Tortur" ist bis heute sein berühmtester Text. Ausführlich beschreibt er die Foltermethode, die sich die Gestapo für Häftlinge wie ihn ausgedacht hat: eine Hängevorrichtung, an der das Opfer an den Armen aufgehängt und hochgezogen wird. "Eine Zeitlang", schreibt Améry, "kann sich der Häftling mit Muskelkraft in der Halbschräge halten, aber nur für kurze Zeit. Was mich betrifft, so musste ich ziemlich schnell aufgeben. Und nun gab es ein von meinem Körper bis zu dieser Stunde nicht vergessenes Krachen und Splittern in den Schultern. Die Kugeln sprangen aus den Pfannen. Dazu prasselten die Hiebe mit dem Ochsenziemer auf meinen Körper. Es wäre ohne alle Vernunft, die mir zugefügten Schmerzen beschreiben zu wollen."

Amérys Resümee: Der Gefolterte ist nur noch Körper, sonst nichts. "Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert."

Im Gestapokeller von Breendonck begann Amerys Leidensweg. Er führte ihn weiter nach Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen. Nach der Befreiung Europas vom Nazi-Terror kehrt der Schriftsteller nach Brüssel zurück, obwohl sich alte Freunde aus der Wiener Zeit bemühen, ihn nach Österreich zurückzuholen. Amery hätte am Aufbau des Wiener Volksbildungswesens mitwirken sollen. Allein: Er wollte nicht. "Das immerwährende Exil, das ich wählte, war die einzige Form von Authentizität, die ich mir erringen konnte."

So lebte er fortan in Brüssel, die letzten eineinhalb Jahrzehnte seines Lebens in der Avenue Coghen im Stadtteil Uccle.

Heute erinnert ein schlichter Grabstein auf dem Wiener Zentralfriedhof an den bedeutenden Schriftsteller, der sich 1978 - nach einer unglücklichen Liebesgeschichte - in einem Salzburger Hotel das Leben nahm. "Jean Améry, 1912 - 1978" steht da in Stein gemeißelt. Wenige Zentimeter darunter der Vermerk: "Auschwitz-Nr. 172364".

Service

Irene Heidelberger-Leonard: "Jean Améry - Revolte in der Resignation", Biographie, Klett-Cotta Verlag, ISBN: 978-3-608-93539-4

Jean Améry: "Jenseits von Schuld und Sühne", Essays, Klett-Cotta Verlag, ISBN: 978-3-608-93948-4

Jean Améry: "Über das Altern", Klett-Cotta Verlag, ISBN: 978-3-608-93845-6 bzw. ISBN: 978-3-608-95334-3

Jean Améry: "Hand an sich legen - Diskurs über den Freitod", Klett-Cotta Verlag, ISBN: 978-3-608-93947-7

Jean Améry: "Unmeisterliche Wanderjahre", Klett-Cotta Verlag, ISBN: 978-3-608-95334-3

Jean Améry: "Lefeu oder der Abbruch", Roman-Essay, Klett-Cotta Verlag, ISBN: 978-3-12-900170-7

Jean Améry: "Charles Bovary, Landarzt", Klett-Cotta Verlag, ISBN: 978-3-608-93329-1

Jean Améry: "Werkausgabe in neun Bänden", Klett-Cotta Verlag, ISBN: ISBN: 978-3-608-93945-3

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