Gedanken für den Tag

Von Rainer Bucher, Pastoraltheologe. "Zeit der Ambivalenzen" - Über den Herbst. Gestaltung: Alexandra Mantler

Ernte

Das Wort Herbst hat sprachgeschichtlich denselben Ursprung wie das englische Wort harvest. Ihre gemeinsame indogermanische Wurzel meint "schneiden". Ursprünglich bedeutete der Begriff Herbst also "Zeit des Schneidens", "Zeit der Früchte", "Erntezeit".

Das mit der Ernte ist hierzulande und für die allermeisten zu einer Metapher geworden. Wirklich ernten, draußen in der Natur und abhängig von ihr, entscheidend über Wohlstand oder Hunger, das tun wir hier in Europa nicht mehr. Selbst für die übrig gebliebenen Landwirte entscheiden eher Brüsseler Nachtsitzungen über den Ertrag ihrer Ernte, als die Ernte selbst.

Und doch besitzt wohl jeder eine Vorstellung davon, was Ernte ist: das Einbringen von Gewächsen und Früchten zu jenem Zeitpunkt, da sie reif sind, da sie das Maximum dessen erreicht haben, was man an ihnen schätzt und von ihnen will. Und für viele Früchte ist das eben der Herbst.

Eine gute Ernte ist immer von zwei völlig konträren Faktoren abhängig: dem eigenen Fleiß und Geschick - und dass die Natur sie gibt. Das unterscheidet Ernte von Industrieprodukten oder Dienstleistungen. Die moderne Industrialisierung hat ziemlich erfolgreich und zu unser aller Nutzen versucht, diesen unberechenbaren Anteil an Natur und Gabe gering oder wenigstens berechenbar zu halten.

Beim Blick auf die Ernte des eigenen Lebens ist es ratsam, dies nicht zu tun. Sondern auf gerade jene Früchte zu schauen, die im Zusammenspiel von eigenem Fleiß und Geschick mit der Gabe und dem Geschenk anderer entstanden sind.

"Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage"

schreibt Rilke. "Südlichere Tage", an denen die Früchte des Lebens voll werden, das sei uns allen gewünscht. Und natürlich nicht nur zwei, sondern viel, viel mehr.

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: John Dowland/1563 - 1626
Album: John Dowland : Lieder zur Laute und Lautensolos
Titel: Lachrimae Pavan
Ausführende: The Consort of Six
Länge: 02:00 min
Label: Harmonia mundi HMC 90244

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