Radiokolleg - Als das Denken noch geholfen hat

Theorie als Lebenshilfe und politisches Instrument (1). Gestaltung: Thomas Mießgang

Seit der 1968er Revolte, die in Österreich nur als "heiße Viertelstunde" erlebt wurde, bis weit in die 1980er Jahre gehörte der Theorieband in der Manteltasche zur Grundausstattung junger intellektueller Milieus: Erst wurde die bevorstehende Revolution in langen, rauchgeschwängerten Diskussionsrunden theoretisch antizipiert, dann ihr Scheitern in poststrukturalistisch verzwirbeltem Denken beklagt und in eine glamouröse Unverständlichkeit überführt.

Die Theorie, die von den aufeinanderfolgenden dissidenten Gruppierungen als Orakel befragt wurde, um lebenspraktische Hilfestellung zu erlangen, reichte von den blauen Bänden der Marx-Engels-Gesamtausgabe, über die Kritische Theorie von Horkheimer und Adorno bis zu den wilden, poetischen Gedankengirlanden von Deleuze/Guattari oder den apokalyptischen Simulationsszenarien von Jean Baudrillard. Treue Begleiter, vor allem der postrevolutionären Lektüren dystopischer Gegenwartsszenarien, waren die schlampig hergestellten Bändchen des Verlages Merve, die schon durch ihr Aussehen zu signalisieren schienen: Lies mich auf dem Klo und wirf mich dann weg. Bücher ohne erhabene Aura, aber mit hohem Gebrauchswert für Leute, die die schnelle intellektuelle Intervention und das akzelerierte Denken in Zeiten einer neuen Unübersichtlichkeit zu schätzen wussten. Später, als die Universitäten zu ergebnisorientierten Wissensfabriken umgebaut wurden, verlor die Theorie an Bedeutung und wanderte in gesellschaftliche Teilsegmente wie die Kunst oder das Cultural Studies-Nähkränzchen ab. Wenn der Impuls, die Welt zu verändern, abgelöst wird vom Bedürfnis, sich im Rahmen unzulänglicher Verhältnisse selbst ein möglichst schönes Leben zu bereiten, dann ist Theorie nicht mehr das Bindemittel, das ganze Generationen zusammenhält, sondern individuelle Marotte solipsistischer Charaktere oder bestenfalls kunsttheoretischer Schwurbel im Rahmen ästhetischer Mikro-Milieus. Heute gibt es nur noch vereinzelte Theorieerlebnisse wie die stets spektakulären Auftritte von Slavoj Zizek, die immer ein großes Publikum anlocken, aber eher traditionellen Show-Choreografien entsprechen als egalitären Kommunikations-Plateaus wissensdurstiger Menschen, die Theorie als Treibstoff für einen fundamentalen Wandel des Gemeinwesens nutzen wollten.

Ansonsten ist die Theorie heute wieder dort beheimatet, von wo sie einst aufbrach, um die Welt zu erobern: im Philosophieseminar. Das Radiokolleg versucht eine Rekonstruktion jener Epoche, in der das Denken noch geholfen hat und Theorie sexy war und verankert sie in den konkreten politischen Milieus, die durch die Theorie mitgestaltet wurden: von den 68er Ereignissen in Paris und Berlin bis zu österreichischen Spezifika wie der Hörsaal-1-Aktion und der Arenabesetzung.

Service

Philipp Felsch: "Der lange Sommer der Theorie", C.H. Beck 2015
Alain Badiou: "Das Abenteuer der französischen Philosophie", Passagen 2014
Jacques Derrida: "Politik und Freundschaft", Passagen 2014
Theodor W. Adorno: "Minima Moralia", Suhrkamp 1969
Herbert Marcuse: "Der eindimensionale Mensch", dtv 2004
Michel Foucault: "Mikrophysik der Macht", Merve Verlag 1977
Wolfgang Müller (Hg.): "Geniale Dilletanten", Merve Verlag 1996
Jean Baudrillard: "Kool Killer", Merve Verlag 2010
Gilles Deleuze, Félix Guattari: "Tausend Plateaus", Merve Verlag 1993
Fritz Keller: "Wien 68, eine heisse Viertelstunde", Junius Verlag 1988
Helmut Lethen: "Verhaltenslehren der Kälte", Suhrkamp 1994

Sendereihe