Radiokolleg - Wie das Kino Italien wieder aufweckte

Der Neoverismo in der Nachkriegszeit
(1). Gestaltung: Christina Höfferer

Neoneoverismo, so heißt eine aktuelle Strömung im italienischen Kino, deren derzeit erfolgreichster Exponent der römische Regisseur und Drehbuchautor Paolo Genovese ist. Genoveses 2016 erschienener Film "Perfetti Sconosciuti" wurde umgehend in vierzig Länder verkauft und mit unzähligen Preisen überhäuft. Das Erfolgsrezept besteht in der akribischen filmischen Umsetzung der Alltags-Realität. Die Karriere des studierten Wirtschafts- und Handelswissenschafters als Filmemacher begann mit einer Mini-Serie für das italienische Fernsehen, "Viaggio in Italia". Den Filmtitel teilt sich Genovese mit Roberto Rossellini, dem bedeutendsten Vertreter des historischen Neoverismo.

Rossellinis "Roma Città Aperta" ist der emblematische Film des Neoverismo, formal perfekt in seiner Darstellung der Beziehungen zwischen Innen- und Außenwelt. Den Helden, Aldo Fabrizi und Anna Magnani, gelingt es, den von nationalsozialistischer Okkupation und Kriegswirren fragmentierten römischen Stadt-Raum zu durchqueren. Rom, die offene Stadt, wird in ihrer ganzen Kraft gezeigt, allerdings nicht mit ihren bekannten Monumenten, sondern durch die damals wenig besuchen Viertel der Peripherie. Schauplätze und Darsteller von "Roma Città Aperta" zeigen das Wesen des Neoverismo. Neoverismo oder Neorealismus wird jener Abschnitt der italienischen Kulturgeschichte genannt, welcher schonungslose Abbilder der harten Nachkriegswirklichkeit ltaliens lieferte. Vor allem in Film und Literatur entstanden so zwischen 1943 und 1954 zeitlose Meisterwerke über Armut, Unterdrückung und durch Diktatoren ausgelöstes Leid. Roberto Rossellini, Lucchino Visconti, Vittorio De Sica und Federico Fellini heißen die Meisterregisseure des filmischen Neoverismo, die angeregt durch den poetischen Realismus der Franzosen und politisch befeuert durch den Marxismus ausdrucksstarke Filme mit beeindruckender Intensität schufen. Der französische Soziologe Roland Barthes definierte den Neorealismus als einen "moralischen Begriff, der genau das als Wirklichkeit darstellt, was die bürgerliche Gesellschaft sich bemüht zu verbergen".

Seinen Film "Deutschland im Jahre Null" drehte Roberto Rossellini 1947 in der Bombenruinenlandschaft von Berlin. Der Italiener brachte damit eine Situation in der deutschen Geschichte auf die Leinwand, die sich die neu gegründete Bundesrepublik beeilte zu vergessen und hinter sich zu lassen. Rossellini hielt die Kamera auf die offenen und sichtbaren Kriegswunden der Städte Rom und Berlin. "Rossellini wollte," so der Filmkritiker und Rossellini Experte Adriano Aprà, "nützliche Filme machen, zum Nachdenken anregen." Bis heute sind die Filme des Neoverismo durch ihre direkte und deutliche Filmsprache von eindrucksvoller Aktualität.

Service

Bücher:

Adriano Aprà, In viaggio con Rossellini. Verlag Falsopiano

Emanuela Garrone, Realismo neorealismo e altre storie. Verlag Mimesis

Christina Höfferer, Lesereise Rom. Vom süßen Leben und der großen Schönheit. Verlag Picus


Links:

Projekt Romarcord, Universität La Sapienza, Rom
Historische Recherchen über die Sozialgeschichte im Kino

Führungen "Roma città aperta. Rom und der neoveristische Film"

Street Art: Anna Magnani auf den der Stiege des Mercato Trionfale

The Strange Vice of Mrs. Wardh and the Giallo. Kino-Tagung im österreichischen Kulturforum in Rom, kuratiert von Andreas Ehrenreich

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