AP/JACQUELYN MARTIN
Radiokolleg - Das postfaktische Zeitalter
Von der Degradierung der Wissenschaft (4). Gestaltung: Ulla Ebner
30. Jänner 2020, 09:05
Noch nie waren Menschen so gebildet wie heute. Noch nie war Wissen so leicht zugänglich für alle. Und dennoch werden Falschmeldungen und Verschwörungstheorien zu einem wachsenden Problem für unsere Demokratien. Sie beeinflussen Wahlen, verstärken die Polarisierung von Gesellschaften und lassen exzentrische Politiker an die Macht kommen, die bewusst ihre eigenen Parallelrealitäten erschaffen.
Als ein Wendepunkt wird hier das Jahr 2016 gesehen: das Jahr, in dem Donald Trump die US-Präsidentschaftswahlen gewann. Im selben Jahr erklärte das Oxford Dictionary den Begriff "Post-Truth" zum Wort des Jahres, in Deutschland erhielt das Wort "postfaktisch" den gleichen Titel. Laut Washington Post verbreitete Trump in den ersten 1.000 Tagen seiner Amtszeit mehr als 13.400 Unwahrheiten. Doch, gelogen wurde in der Politik vermutlich seit es sie gibt.
Was also ist das Neue am Phänomen der postfaktischen Demokratie? Auffällig ist, dass sich Politiker wie Trump oder Putin gar nicht darum kümmern, ob ihre Lügen auffliegen. Tatsachen verdrehen ist zur Machtdemonstration geworden: ich entscheide, was wahr oder falsch ist. Sich offen zur einen oder anderen "Wahrheit" zu bekennen, wird Ausdruck einer bestimmten politischen Identität. Vorsätzlich diskreditieren politische Akteure wissenschaftliche Forschung, wenn diese ihren Interessen widerspricht.
Stichwort Klimawandel. Der politische Kampf gegen Klimaforscher und andere Wissenschafter hat Methode. Die Erdölindustrie finanziert gezielt konservative Think Tanks, um angebliche Experten in die Medien zu bringen, die fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse über Treibhausgase in Frage stellen. Vorlage dafür war eine Kampagne der Tabakindustrie in den 1950ern. Diese versuchte jahrelang, in der Öffentlichkeit Zweifel darüber zu schüren, ob Rauchen tatsächlich krebserregend sei.
Neu ist auch die massive Verbreitung von "Fake News" über das Internet. Eine unüberschaubare Fülle an Informationen macht es den Menschen schwer, seriöse Berichte von Halbwahrheiten und Lügen zu unterscheiden. Auf Social Media bekommt Aufmerksamkeit, wer am schrillsten ist und am meisten emotionalisiert. Das ist kein Zufall. Die Algorithmen dieser Netzwerke wurden unter Einbindung von Psychologen entwickelt, die untersucht haben, was es braucht, damit wir möglichst lang in den Netzwerken verweilen. Zahlreiche Faktencheck-Projekte gehen mittlerweile den Falschmeldungen nach und bemühen sich, Richtigstellungen im Netz zu verbreiten. Mit mäßigem Erfolg. Manchmal können diese Versuche sogar das Gegenteil bewirken: sie erzeugen bei deren Anhängern ein "Jetzt erst recht"-Gefühl, den sogenannten Backfire-Effekt. Denn Informationen, die nicht in unser Weltbild passen, erzeugen bei uns eine kognitive Dissonanz, ein Gefühl der Verstörung. Wie kann man dieses Phänomen also bekämpfen? Ein Radiokolleg über alternative Fakten, gefühlte Wahrheiten und die Zukunft unserer Demokratie. Die Sendung ist Teil der Ö1 Initiative "Reparatur der Zukunft".
Service
Literatur:
Harry G. Frankfurt: "Bullshit", aus dem Englischen von Michael Bischoff.
Suhrkamp
Vincent F. Hendricks / Mads Vestergaard, "Postfaktisch. Die neue Wirklichkeit in Zeiten von Bullshit, Fake News und Verschwörungstheorien",
Blessing Verlag
Romy Jaster / David Lanius, "Die Wahrheit schafft sich ab: Wie Fake News Politik machen.",
Reclam
Lee C. McIntyre, "Post-Truth",
MIT Press
Lee C. McIntyre, "The Scientific Attitude. Defending Science from Denial, Fraud and Pseudoscience",
MIT Press
Susan Neiman, "Widerstand der Vernunft. Ein Manifest in postfaktischen Zeiten",
ecowin
Naomi Oreskes / Erik M. Conway, "Die Machiavellis der Wissenschaft: Das Netzwerk des Leugnens",
Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA
Eva Linsinger, "Alles nur Fake! Journalismus in Zeiten von Postdemokratie, Message Control und Rechtspopulismus",
Picus
Tom Wannemacher, Andre Wolf, "Die Fake-Jäger. Wie Gerüchte im Internet entstehen und wie man sich schützen kann",
Komplett-Media
Stephan Lewandowsky, Klaus Oberauer and Gilles E. Gignac, "NASA Faked the Moon Landing--Therefore, (Climate) Science Is a Hoax: An Anatomy of the Motivated Rejection of Science",
In: Psychological Science 2013/24:
Lewandowsky, S., Ecker, U. K. H., & Cook, J. (2017). "Beyond Misinformation: Understanding and Coping with the Post-Truth Era".
In: Journal of Applied Research in Memory and Cognition, 6(4).
Links:
Stephan Lewandowsky, John Cook: "Widerlegen, aber richtig"!
John Cook, Geoffrey Supran,Stephan Lewandowsky, Naomi Oreskes, Ed Maibach: "America Misled. How the fossil fuel industry deliberately misled Americans about climate change"
Mimikama - Verein zur Aufklärung über Internetmissbrauch
SOMA - Social Observatory for Disinformation and Social Media Analysis
National Whistleblower Center - New Whistleblower Report Shows How Facebook, Contrary to Assurances, is Creating Extremist Content for the Benefit of Hate and Terror Groups
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