Manfred Scheuer über das Erinnern

29. März 2021, 06:56

"Kannst du dich noch erinnern ... damals als wir...?" - Wir kennen diesen Satz aus unseren Gesprächen mit Freunden oder in der Familie. Gemeinsame Erinnerungen schaffen Verbundenheit. Freude, Glück, Sternstunden, aber auch Leiden und Traurigkeit, schwere Situationen und Abgründe werden in die Gegenwart geholt. Gestern hat mit dem Palmsonntag die Karwoche begonnen. In den kommenden Tagen erinnern sich Christinnen und Christen des Leidens und Sterbens Jesu. Sie erinnern sich auch an Gottes Eingreifen für das Leben, an die Auferstehung Jesu.

Eine solche Erinnerung kann freilich nicht erfolgen, wenn wir die Gegenwart ausblenden. Zum Leiden und Sterben Jesu am Karfreitag werden Tod und Leiden heutiger Tage, werden die persönlichen Niederlagen und Tränen, die schmerzlichen Einschnitte in den Alltag durch Corona, aber auch gesellschaftliche Erfahrungen von Armut, Unrecht, Flucht und Krieg gestellt. In die Osterfreude hinein mischen sich die kleinen und großen Auferstehungserfahrungen im Leben der Menschen.

Das Gedächtnis gehört zu unserem Leben in der Zeit. Der Raub der Vergangenheit führt zu Entwurzelung und Versklavung. Die Auslöschung der Erinnerung war ein Mittel der Sieger und Herrscher, um Feinde, Konkurrenten und Opfer mit letzter Verachtung zu treffen. Positiv gewendet: Das Gedächtnis ist Bedingung für Identität und Selbstwertgefühl. Gedächtnisschwund kann so weit führen, dass ein Mensch von seiner Vergangenheit wie abgeschnitten ist: Er weiß nicht mehr, wer er ist. Oder wie es der evangelische Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer ausgedrückt hat: "Die Güter der Gerechtigkeit, der Wahrheit, der Schönheit ... brauchen Zeit, Beständigkeit, ,Gedächtnis', oder sie degenerieren."

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Gestaltung

• Alexandra Mantler