Ilse Aichinger, 199

APA/DPA/MARTINA HELLMANN

Gedanken für den Tag

Cornelius Hell über Ilse Aichinger

"Aufruf zum Misstrauen". Der Literaturkritiker und Übersetzer Cornelius Hell über die österreichische Schriftstellerin anlässlich deren 100. Geburtstages

Vor wenigen Wochen kam meine Tochter Viola mit einer nicht ganz einfachen Hausaufgabe zu mir: Sie hatte eine Inhaltsangabe von Ilse Aichingers Kurzgeschichte "Das Fenster-Theater" angefertigt, und wollte sie mich lesen lassen. Der Text hat nur drei Buchseiten, lässt sich aber nur schwer zusammenfassen. Er beginnt mit einer Frau, die einen alten Mann im Haus gegenüber beobachtet. Der Mann nickt, und die Frau denkt, dass dieses Nicken nur ihr gelten könne, denn die Wohnung über ihr sei ja leer. Als der Mann mir Hut und Mantel wiederkommt, mit einem Tuch winkt und sich gefährlich weit über die Brüstung lehnt, ruft sie die Polizei. Da der Mann nicht öffnet, brechen die Polizisten die Wohnung auf. Die Frau folgt ihnen und sieht den Mann vor sich, der mit einem Kissen am Kopf und dem Teppich um die Schultern noch immer Theater spielt. Und sie bemerkt, dass die Wohnung über ihr nicht mehr leer steht, sondern dort ein kleiner Junge in einem Gitterbett steht, und für diesen spielt der alte Mann. Der Junge lacht und wirft, so das Ende der Erzählung, sein Lachen "mit aller Kraft den Wachleuten ins Gesicht".

Meine Tochter hat schon das Thema benannt, um das diese Kurzgeschichte kreist: um Vorurteile und voreilige Schlüsse aus dem Gesehenen; da sind wir uns einig. Wir besprechen noch einige Details des Textes, da fragt mich Viola: "Wie alt, glaubst du, ist diese Frau?" Ich antworte gleich: "Ziemlich alt schon." Viola will wissen, woher ich das weiß. Also suche ich nach Argumenten: dass sie viel Zeit hat und ihr langweilig ist; dass eine junge Frau ja wohl nicht glauben würde, der alte Mann würde ihr zunicken. Viola hat da ihre Zweifel. Also lese ich noch einmal genau und muss zugeben: Nichts davon steht im Text. Ich habe also aus Ilse Aichingers "Fenster-Theater", das, wie wir eben festgestellt haben, gegen die schnellen Schlüsse geschrieben ist, schnelle Schlüsse gezogen.

Nachdenklich über diese Demaskierung wird mir bewusst, dass Viola mit dieser Erzählung von Ilse Aichinger zum ersten Mal eingetreten ist die Welt der Texte, die mich umtreiben, seit ich in etwa so alt war wie sie jetzt. Und dass wir, wenn wir gemeinsam lesen, mehr begreifen als jeder für sich.

Service

Literatur:

Ilse Aichinger: Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, Hg. Richard Reichensperger, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 1991
Die Bände sind auch einzeln erhältlich.

Weitere in der Sendung zitierte Werke von Ilse Aichinger:

Ilse Aichinger: Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 2003 - enthält die Staatspreisrede vom 20. März 1996 nachzulesen (Der Boden unter unseren Füßen)

Ilse Aichinger: Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946-2005, Hg. Andrea Dittrich. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021

Ilse Aichinger: Es muss gar nichts bleiben. Interviews 1952-2005. Hg. und Nachwort von Simone Fässler. Edition Korrespondenzen 2011 (der Band enthält das Gespräch mit Cornelius Hell: Dazwischen ist sehr viel Schweigen)

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Sendereihe

Gestaltung

Übersicht

Playlist

Komponist/Komponistin: Maurice Ravel/1875 - 1937
Gesamttitel: EIN HERZ IM WINTER / Original Filmmusik
Titel: Berceuse sur le nom de Gabriel Faure - für Violine und Klavier
Anderer Gesamttitel: UN COEUR EN HIVER
Solist/Solistin: Jean Jacques Kantorow /Violine
Solist/Solistin: Jacques Rouvier /Klavier, Steinway
Länge: 03:09 min
Label: Erato 4509939642

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