Bücher in der Auslage

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Ex libris

Die Bücher des Jahres

Unter seltsamen Umständen geht ein weiteres Jahr zu Ende; ein Jahr der begrenzten Möglichkeiten und der noch begrenzteren inneren Horizonte, dort, wo Weitblick gefragt wäre. In dieser Ausgabe von "Ex libris" stellen Mitarbeiter:innen der Ö1 Literatur-Redaktion jeweils ein Buch vor, von dem sie in den vergangenen zwölf Monaten besonders beeindruckt waren. Es erwartet Sie also eine Stunde der Begeisterung, mit der wir Sie gerne anstecken möchten - ja, das Wort "anstecken" hängt jedem zum Hals heraus, aber es ist nun einmal so, dass nicht nur wir, sondern auch ein positiver Blick auf die Dinge ansteckend sein können.

Julia Zarbach präsentiert Helga Schuberts "Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten". Dieser Erzählband, der das schwierige Verhältnis der Autorin zu ihrer Mutter thematisiert, besteht aus 29 Geschichten, deren letzte Helga Schubert in diesem Jahr den Ingeborg-Bachmann-Preis eingetragen hat. Das ergibt den interessanten Effekt, dass man auf diesen letzten, bereits bekannten Text hin liest. Und es wirkt, als seien alle anderen Geschichten rund um diesen Text gebaut, sodass er sich beim nochmaligen Lesen auf noch viel intensivere Weise erschließt.

Erich Klein, Kritiker, Übersetzer und Herausgeber hat sich für den russischen Untergrundautor Lew Rubinstein und dessen Buch "Ein ganzes Jahr. Mein Kalender" entschieden. Rubinstein zählt zu den Moskauer Konzeptualisten, die ihre Texte nach mitunter ausgefallenen Formen und unter strengen formalen Vorgaben gestalten. Die formale Struktur des Werks gibt ein traditioneller Abreißkalender vor, der täglich einen Sinnspruch oder ein historisches Ereignis verzeichnet. Rubinstein verbindet diese zufälligen, äußerliche Daten mit zufälligen, unwillkürlich erinnerten Momenten seines eigenen Lebens - und da werden dann nicht ganz zufällig auch bedeutende Daten der russischen oder der sowjetischen Geschichte durchgespielt und durchexerziert.

Karin Buttenhauser, Kulturredakteurin im ORF-Landesstudio Salzburg stellt "Hard Land" des Münchner Autors Benedict Wells vor. Wells, der so manche Anleihe bei US-amerikanischen Coming-of-Age-Romanen nimmt, siedelt seine Handlung in der fiktiven Kleinstadt Grady, in Missouri, im Mittleren Westen der USA an. Der Ich-Erzähler Sam beginnt seine Geschichte im Sommer 1985. Da ist er 15 und blickt auf eine Kindheit mit Panikattacken zurück und auf eine freudlose Gegenwart. Benedict Wells beherrscht jenen flüssigen, vorwiegend US-amerikanischen Erzählstil, der sein Publikum mit Überraschungen, Pointen und plot twists an die Geschichte bindet - ein unkomplizierter Stil, der ohne Raffinesse, aber auch ohne Längen auskommt und dazu einlädt, das Buch in einem Zug durchzulesen.

Der Gedichtband "Averno" der US-amerikanischen Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück nimmt Bezug auf einen - westlich des Vesuvs gelegenen - Eingang in die antike Unterwelt, wie ihn schon Virgil in seiner "Aeneis" beschrieben hat. Bei Louise Glück kommt er namentlich nur im Titel eines Gedichtes und des Gedichtbandes selbst vor. Die Dichterin steigt gewissermaßen hinab in die Unterwelt, thematisiert den Übergang vom Leben zum Tod. Dabei formuliert sie sehr klar, weswegen man diese Lyrik leicht unterschätzen könnte. Rezensentin Gudrun Hamböck begeistert aber der Einsatz variierender Motive und überraschender gedanklicher Richtungswechsel, die Assoziationen und Räume öffnen.

Die Journalistin und Autorin Irene Binal zeigt sich von einem Buch fasziniert, das sich auf spannende Weise jeder Kategorisierung entzieht. Stuart Turtons "Der Tod und das dunkle Meer" ist ein historischer Roman - die Handlung spielt im frühen 17. Jahrhundert -der aufgrund seiner modernen Sprache nur mit dem Genre spielt. Es ist ein Krimi, der sein Lesepublikum unmittelbar in die Handlung wirft, als setzte er ein vorangegangenes Buch fort und zugleich Abenteuer- wie auch Schauerroman.

Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer, legt Ihnen das letzte Buch des im März verstorbenen polnischen Dichters und Essayisten Adam Zagajewski ans Herz. "Poesie für Anfänger" ist sein Titel. Zagajewski gehörte zu den Ausnahmeerscheinungen der europäischen Literatur. Verwurzelt in der Kultur seiner Heimat war er so etwas wie ein Flaneur, der allem mit Interesse begegnete, der alles aufsog und in sein eigenes Schreiben integrierte. Er war ein ganz in seiner Gegenwart lebender Metaphysiker, der, ohne ins Religiöse oder gar Esoterische abzudriften, etwas Größerem jenseits der menschlichen Existenz auf der Spur war.

Martin Sailer, Literaturchef des ORF-Landesstudios Tirol stellt Alois Hotschnigs Roman "Der Silberfuchs meiner Mutter" vor. Dem Buch, das wohlweislich keine Biografie ist, liegen lange Gespräche Hotschnigs mit dem in Innsbruck lebenden Schauspieler Heinz Fitz zugrunde, der in einem der NS-Lebensbornheime zu einem strammen Nazi erzogen hätte werden sollen. Martin Sailer lobt die exquisite Sprache, reduziert auf das Unverzichtbare, bildreich, ein fein ausbalanciertes Wunderwerk von Form und Inhalt.

Peter Zimmermann schließlich empfiehlt die dänische Schriftstellerin Edith Lesen, die seit den 1940er Jahren zu den bekanntesten Schriftstellerinnen ihres Landes zählte. Ihre Stoffe schöpfte sie aus ihrer Biografie, die starke Ähnlichkeit mit jener der US-Amerikanerin Sylvia Plath zeigte. Beide Leben endeten durch Freitod. "Die Kopenhagener Trilogie" ist neben Sylvia Plaths "Die Glasglocke" der aufrichtigste, schonungsloseste und in der Beschreibung des persönlichen Scheiterns wichtigste Bericht eines Frauenleben in der Mitte des 20. Jahrhunderts.

Service

Helga Schubert: Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten, dtv

Lew Rubinstein: Ein ganzes Jahr. Mein Kalender, Matthes & Seitz Verlag (Übersetzung: Werner Boschmann, Elisabeth Landenberger, Dario Planert, Lara Rindt, Susanne Strätling, Dimitri Vinogradov, Anna Weigelt, Georg Witte)

Benedict Wells: Hard Land, Roman, Diogenes Verlag

Louise Glück: Averno, Gedichte. Luchterhand Verlag (Übersetzung: Ulrike Draesner)

Adam Zagajewski: Poesie für Anfänger, Essays, Hanser Verlag (Übersetzung: Renate Schmidgall)

Stuart Turton: Der Tod und das dunkle Meer, Roman, Tropen Verlag (Übersetzung: Dorothee Merkel)

Alois Hotschnig: Der Silberfuchs meiner Mutter, Roman, Kiepenheuer & Witsch Verlag

Tove Ditlevsen: Die Kopenhagen-Trilogie (Kindheit, Jugend, Abhängigkeit), Aufbau Verlag (Übersetzung: Ursel Allenstein)

Sendereihe

Gestaltung

  • Peter Zimmermann

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