Leute nehmen am Friedens-Marsch auf der Margaret Brücke teil.

AFP/ATTILA KISBENEDEK

Radiokolleg - Magyarische Paradoxien

Ein Streifzug durch Geschichte und Gegenwart Ungarns (1). Gestaltung: Günter Kaindlstorfer

Am 3. April 2022 wählt Ungarn ein neues Parlament. Zum ersten Mal seit 2010 muss der rechtspopulistische Ministerpräsident Viktor Orban ernsthaft um seine Macht fürchten. Die Opposition, von links bis rechtsaußen, hat sich auf den Konservativen Peter Marki-Zay als gemeinsamem Spitzenkandidaten geeinigt. In Umfragen liegt der populäre Bürgermeister der 50.000-Einwohner-Stadt Hodmezövasarhely bereits seit geraumer Zeit gleichauf mit dem umstrittenen Regierungschef.

Viktor Orbán gehört zu den umstrittensten Politikern Europas. In den Augen seiner Kritikerinnen und Kritiker hat der Vorsitzende der rechtskonservativen Fidesz-Partei das "Land der Magyaren" während der letzten zwölf Jahre in einen halbautoritären Staat verwandelt, in eine Mischung aus Demokratie und Diktatur. Seine Mehrheiten pflegt sich Viktor Orbán mit einer immer kompromissloseren Gleichschaltung der Medienlandschaft und nicht zuletzt mit antisemitischen Kampagnen - etwa gegen seinen früheren Mäzen und Förderer George Soros - zu organisieren.

Inwieweit lässt sich das "System Orban" aus den Erfahrungen der ungarischen Geschichte heraus erklären? Kann man die nationalen Traumen der Vergangenheit zur Erklärung der ungarischen Gegenwart heranziehen? Und wohin könnte sich das Land zwischen Neusiedlersee, Karpatenbogen und Drau in den nächsten Jahren entwickeln? Um eine Beantwortung dieser Fragen bemühen sich in der vierteiligen "Radiokolleg"-Reihe prominente Intellektuelle, Wissenschaftlerinnen und Künstler.

"Die Ungarn fühlen sich als das einsamste Volk Europas", erklärt etwa der Publizist Paul Lendvai, einer der profundesten Kenner des Landes: "Das hängt zum einen mit der Sprache zusammen - einer der wenigen nicht-indogermanischen Sprachen auf dem Kontinent -. es hat aber auch mit der ungarischen Geschichte zu tun, die man durch die Jahrhunderte hindurch als tragische Abfolge von Niederlagen und blutigen Katastrophen beschreiben kann. Der Mongolensturm im 13. Jahrhundert, die Niederlage gegen die Osmanen bei der Schlacht von Mohacs, die eineinhalb Jahrhunderte währende türkische Fremdherrschaft, die Niederwerfung des Freiheitskampfes von 1848/49, das Diktat von Trianon, die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und das Menschheitsverbrechen der Shoa, die jahrzehntelange Sowjetherrschaft und die Niederschlagung des Oktoberaufstands von 1956 - das alles waren katastrophale Heimsuchungen, die sich tief ins nationale Bewusstsein eingeschrieben haben."

Aus der Erfahrung, sich als gedemütigte und zugleich zu Höherem berufene Nation zu fühlen, hat sich auch das Temperament des "magyarischen Menschen" entwickelt, wie es in der Historiographie und der Literatur oft beschrieben worden ist: Eine pessimistische Grundstimmung, ein tief verwurzeltes Gefühl des Gefährdetseins,- und eine tragische Anfälligkeit für nationalistische Heilsverheißungen, mit denen sich in den letzten Jahren auch Viktor Orban eine tragfähige Wählerbasis aufgebaut hat.

Service

Paul Lendvai: Die Ungarn - Eine tausendjährige Geschichte, Ecowin-Verlag, ISBN: 978-3-7110-0266-2

Paul Lendvai: Orbans Ungarn, Kremayr & Scheriau, ISBN: 978-3-218-01261-4

György Dalos: Ungarn in der Nussschale, C. H. Beck, ISBN: 978-3-406-75804-1

György Dalos: Das System Orban - Die autoritäre Verwandlung Ungarns, C. H. Beck, ISBN: 978-3-406-78209-1

Kostenfreie Podcasts:
Radiokolleg - XML
Radiokolleg - iTunes

Sendereihe

Gestaltung