Zwischenruf

Krisen

Wenn alles so bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern, meint Regina Polak, katholische Theologin und Religionssoziologin

Morgen, am 31. Oktober, begehen evangelische Christinnen und Christen das Gedenken an die Reformation der Kirche durch Martin Luther. Dieser wandte sich im 16. Jahrhundert an die geistlichen Würdenträger und Bischöfe und wollte seine Kirche zur Umkehr bewegen. Die hohen Herren in der Kirchenleitung haben nicht auf ihn gehört. In Folge kam es zu Konflikten und Konfessionskriegen.

Könnte dieser Tag nicht Anstoß geben, gesellschaftliche Verantwortungsträger:innen und Politiker:innen in die vielen Organisationen in Österreich einzuladen, um Gesellschaftsreformen nicht nur zu fordern, sondern gemeinsam über deren Umsetzung nachzudenken? Vielen Politiker:innen ist oft nicht bewusst, wie viele Menschen in Österreich längst wissen, dass die globalen Krisen zum Umdenken zwingen: in Bezug auf unseren Lebensstil, unser Wirtschaftssystem, unseren Umgang mit den Ressourcen unseres Planeten, unsere Werte.

Umgekehrt sind die Verantwortungsträger:innen dringend angehalten, ihrerseits solche Diskursräume für neue Ideen zu öffnen, möglichst viele Menschen einzubeziehen und zuzuhören. Denn an den Rändern gären rechts wie links Rufe nach Systemsturz und bedrohen den sozialen Zusammenhalt. Deshalb sind insbesondere die besonnenen Kräfte der Mitte aufgefordert, mit den Verantwortungsträger:innen zusammenzuarbeiten. Denn die Krisen der Gegenwart destabilisieren die Gesellschaft und verschaffen jenen extremen Gruppen Zulauf, die einfache Lösungen versprechen. Diese aber gibt es angesichts der Massivität der Krisen nicht.

Mir ist bewusst, dass viele Menschen von Krisen nichts mehr hören wollen oder können, weil sie überfordert, ohnmächtig, ja sogar existenziell bedroht sind. Ich kann gut verstehen, dass man dann abtaucht und die Krisen individuell so gut wie möglich durchstehen möchte. Aber Krisen, wie wir sie heute erleben, können nur in sozialen Gruppen, die über Familie und Freunde hinausgehen, bestanden werden. Überdies ist der Versuch durchzutauchen, bis alles wieder normal wird, nicht nur unrealistisch, sondern auch fahrlässig. Unsere Gesellschaft wird lernen müssen, mit Krisen zu leben - und das bedeutet nicht bloß durchzuhalten, sondern in allen Bereichen Systemreformen anzugehen. Denn mit den Entscheidungen heute werden die Weichen für die zukünftigen Generationen gestellt. Wenn alles so bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern.

Von Martin Luther kann man lernen, dass solche äußeren Reformprozesse mit innerer Umkehr verbunden sind. Dies ist vielleicht die schmerzhafteste Aufgabe in Krisen: Diese rufen immer auch zur Selbstkritik auf. Aber gerade, weil Krisen destabilisieren, eröffnen sie auch Freiräume. Sie können die oft unbewussten Erwartungen und Vorstellungen von individuellem und gesellschaftlichem gutem Leben bewusst machen, die aber vielleicht nicht immer so gut sind, wie man glaubt. Aber indem sie durch Krisen durchkreuzt werden, werden sie veränderbar. Dies wäre die notwendige innere Reform. Reformen bekämpfen dann nicht nur äußere Krisensymptome, sondern lassen deren Ursachen bearbeitbar werden, die auch in unseren Vorstellungen, Weltbildern und Werten liegen.

Statt aktivistisch Reformen zu setzen, wünsche ich mir für unsere Gesellschaft Zeit für solche Prozesse des Innehaltens und Nachdenkens. Denn es steht viel auf dem Spiel.

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Johann Sebastian Bach
Album: GOLDBERG - VARIATIONEN BWV 988 "Aria mit 30 Veränderungen" / Bearbeitung für Akkordeon (Klavierübung Teil IV)
* 19. Variatio 18 Canone alla Sesta a 1 Clav. (00:44)
Variation
Solist/Solistin: Wolfgang Dimetrik /Akkordeon
Länge: 00:44 min
Label: amphion records amph 20126

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