Cornelius Hell

Cornelius Hell - ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Gedanken für den Tag

José Saramago

Literaturkritiker und Übersetzer Cornelius Hell wirft Schlaglichter auf das Leben und Werk des portugiesischen Schriftstellers anlässlich dessen 100. Geburtstages

"Der Mensch hat eine schwere Krankheit, die für ihn selbst, aber vor allem für die anderen tödlich ist, nämlich den Durst nach Macht." Diese Aussage des großen portugiesischen Romanciers José Saramago, der in der Diktatur aufgewachsen ist, die erst 1974 von der sogenannten "Nelkenrevolution" beendet wurde, benennt ein Grundthema seiner Literatur. Von daher nähert er, der Marxist und Atheist, sich in seinem Roman "Das Evangelium nach Jesus Christus" auch der Jesus-Figur an. Sein Jesus, der vier Jahre als Schafhirte gearbeitet hat, weigert sich, für den Opferbetrieb des Tempels ein Schaf zu töten. Doch dann lässt er sich von Gott dazu überreden, es doch zu tun - und ist ihm danach ausgeliefert.

Gott, sagt Saramagos Roman, braucht Jesus und seinen Tod am Kreuz, um Macht über die Menschen zu gewinnen. Das Buch wird von einem Jesus-Roman immer mehr zu einer Auseinandersetzung mit Gott und seiner Macht. Und es eröffnet eine düstere Vorausschau auf die Macht der Kirche, die sich auf den gekreuzigten Jesus stützen wird.

Anders als in den biblischen Evangelien schreibt Saramagos Roman Jesus keinerlei Bewusstsein zu, der Sohn Gottes zu sein. Vielmehr wird er in einer direkten Konfrontation von Gott als sein Sohn reklamiert. Und dieser Gott ist ein Zyniker der Macht, der zu Jesus sagt: "Ja, mein Sohn, der Mensch ist Holz zu jederart Löffel, ab der Geburt bis zum Tode stets zu dienen bereit, man befiehlt ihm Halt und er steht, man heißt ihn kommen, und er kommt, der Mensch, im Frieden wie im Krieg, allgemein gesprochen, ist das Beste, was den Göttern widerfahren konnte ."

Der Roman endet mit Jesu Tod am Kreuz, und dabei muss Jesus erkennen, dass er von Gott geopfert wurde wie ein Lamm. Und während sich der Himmel öffnet und ein lächelnder Gott erscheint, schreit Jesus mit letzter Kraft: "Menschen, vergebt ihm, denn er weiß nicht, was er getan hat."

Trotz dieses scheinbar eindeutigen Schusses lese ich "Das Evangelium nach Jesus Christus" nicht als einen Thesen-Roman, dem es nur darum geht, das Christentum zu demaskieren, sondern als eine große poetische Fiktion, die sich nicht zufrieden gibt mit traditionellen Auffassungen von Wahrheit und Lüge, Allmacht und Ohnmacht. Und gerade deswegen so viel Interesse hat an Jesus.

Service

Josè Saramago, "Das Evangelium nach Jesus Christus", Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1993 (nicht mehr lieferbar)
Josè Saramago, "Kain", Hoffmann und Campe. Hamburg 2011
Josè Saramago, "Das Zentrum", Btb 2014
Josè Saramago, "Die Stadt der Blinden", Btb 2015
Josè Saramago, "Das Memorial", Atlantik Verlag 2018

Kostenfreie Podcasts:
Gedanken für den Tag - XML
Gedanken für den Tag - iTunes

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Joseph Haydn 1732 - 1809
Vorlage: Bibel NT, Markus, Lukas, Johannes
Textdichter/Textdichterin, Textquelle: Raimon Panikkar
Textdichter/Textdichterin, Textquelle: Jose Saramago
Vorlage: Erste Original Fassg. für Orchester
Textdichter/Textdichterin, Textquelle: Jose SARAMAGO geb.16.11.1922 Azinhaga, Prov.Ribatejo
Textdichter/Textdichterin, Textquelle: Raimon PANIKKAR 3.11.1918 Barcelona
Gesamttitel: DIE SIEBEN LETZTEN WORTE UNSERES ERLÖSERS AM KREUZE, Hob.XX: 1 - die Original Orchesterfassung von 1785 mit ergänzend gesprochenen Evangelien Zitaten
Titel: 5. Sonata II. Grave e Cantabile (00:07:06)
Anderer Gesamttitel: SIEBEN SONATEN MIT EINER EINLEITUNG UND AM SCHLUSS EIN ERDBEBEN
Solist/Solistin: Francisco Rojas
Orchester: Le Concert des Nations
Ausführender/Ausführende: Manfredo Kraemer
Leitung: Jordi Savall
Länge: 07:06 min
Label: Alia Vox AV 8754

weiteren Inhalt einblenden