Der Schüler und der Ast

11. Mai 2023, 06:57

Ein Zen-Schüler war schon lange Zeit bei seinem Meister in Ausbildung. Er hatte schon viele Stufen seiner spirituellen Entwicklung gemeistert, aber die ganz große Erkenntnis war ihm noch nicht begegnet.

Er wurde auch langsam ungeduldig und nachdem das seinem Meister nicht verborgen blieb, stellte dieser ihm eines Tages in Aussicht, dem Erwachen einen großen Schritt näher zu kommen, wenn er zu einer bestimmten Übung bereit wäre. Der Schüler sagte mit großer Begeisterung zu und der Meister trug ihm auf, im nahe liegenden Wald eine ganze Nacht lang auf dem Ast eines Baumes, kopfunter, eingehängt mit den Kniekehlen, den Sternenhimmel zu beobachten. "Großes wird sich dir dabei eröffnen", sagte der Meister zum Abschluss.

Bei Einbruch der Dunkelheit marschierte der Schüler los und tat, wie ihm vom Meister aufgetragen. Er hängte sich auf einem hohen Baum kopfunter an einen Ast und versuchte einen Blick in die Sterne. Aber weder seine Position noch die Blätter und Äste der anderen Bäume ermöglichten ihm auch nur einen einzigen Blick in den Himmel - und das änderte sich nicht, die ganze Nacht hindurch. Er kam sich vor wie ein Idiot, der blind den Anweisungen eines anderen gefolgt ist. Als er das am nächsten Morgen dem Meister sagte, antwortete dieser: "Nun, ist das nicht die größte Erkenntnis, die du auf deinem Weg je gemacht hast?"

In dieser Geschichte ist einiges drinnen für unser tägliches Leben: Zum Beispiel Eigenverantwortung übernehmen und sich kritische Offenheit erhalten, aber auch einen prüfenden Blick darauf zu werfen, in welchen Meinungsblasen ich mich gerade am wohlsten fühle.

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Sendereihe

• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler