Matthias Geist

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Zwischenruf

Wenn kein Stein auf dem anderen bleibt

von Matthias Geist, evangelisch-lutherischer Superintendent von Wien, zum Prozess gegen die sogenannte "Rote Armee Fraktion" 1977

Ich war viele Jahre lang Gefängnisseelsorger und habe in dieser Funktion auch mit sehr gefährlichen, gewaltbereiten Menschen zu tun gehabt. Vor diesem Hintergrund möchte ich die folgenden Überlegungen mit Ihnen teilen.

Manchmal bleibt kein Stein auf dem anderen. Und dann kann ein Domino-Effekt entstehen, der die Steine erst so richtig ins Rollen bringt. Unaufhaltsam. Heute vor 48 Jahren hat der schwerwiegende Prozess um die RAF, die "Rote Armee Fraktion", in Stuttgart-Stammheim begonnen. Vor mehr als 50 Jahren eskalierte in Deutschland ein gesellschaftspolitisch äußerst bedrohliches Gemisch: Das unaufgearbeitete Erbe von Faschismus und zweitem Weltkrieg, gepaart mit der Frage nach Gerechtigkeit in der westlichen Welt.

Die Terrorvereinigung RAF mit ihrer ersten Generation stellte sich - eigenen Aussagen zufolge - gegen das kapitalistische System und wehrte sich gegen das Machtgefüge einer totgeschwiegenen, nationalsozialistischen Vergangenheit. Und gegen einen durchaus autoritär auftretenden Staat, der mit roher Polizeigewalt Demonstrationen niederschlug.

So wurde am 2. Juni 1967 der Pazifist und bekennende evangelische Christ Benno Ohnesorg bei einer Demonstration in Berlin aus kurzer Distanz von einem Polizisten erschossen. Die RAF reagierte darauf ebenfalls gewaltsam. Mit Hilfe sinnloser und leider knallharter Mittel. Das ist mit nichts zu rechtfertigen.

Wer auch immer zur RAF zählte: Die Menschen trieb eine Wucht von Überzeugung im Recht zu sein, eine durchaus fatale Sehnsucht nach einer besseren Welt. Manche haben dies später erkannt und wurden Lehrer:innen, Psycholog:innen oder Kirchenmusiker:innen. Andere sind bei ihren Wahnsinnstaten von Kaufhausbränden und heimtückischen Mordanschlägen geblieben. Manche, die den "Deutschen Herbst" mitzuverantworten hatten, bezeugen bis heute keine Reue.

In der Evangelischen Gefängnisseelsorge Deutschlands und auch in meiner eigenen Zeit hier in Wien, spielen auch die Gespräche mit Straftäter:innen aus terroristischem Umfeld eine Rolle. Bei denen, die einen wirklichen Austausch suchen, geht es darum, sich den Themen und Fragen der Zeit zu stellen. Auf beiden Seiten. Die Spaltungen und Risse durch die Gesellschaft werden dann besonders brüchig und gefährlich, wenn jeder Diskurs aufgekündigt wird. Wenn ein Ringen nicht einmal versucht, sondern verweigert wird. Wenn Gewalt zum Mittel der Wahl wird.

Ihre Logik ist unentschuldbar und verwerflich auf der einen Seite. Aber auf der anderen Seite spüre ich hinter der verbrecherischen Engführung ihrer Gedanken eine Wunde, eine Ohnmacht und eine unerhörte Sehnsucht. Die Tatkraft gewinnt dann umso mehr Energie, je weniger sich jemand ernst genommen weiß.

Meine Schlussfolgerung aus all diesen Erfahrungen: Es ist heute von zentraler Bedeutung in den politisch brisanten Themen genau hinzuhören und achtsam zu sein. Die Spannungen in unserer Gesellschaft sind zu groß, als dass wir nicht gerufen sind, jede Eskalation frühzeitig zu verhindern. Solche Steine der Gewalt, wie jene der RAF, sollen in unseren Tagen keinesfalls ins Rollen gebracht werden.

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Wolf Biermann
Album: INDICUM
Titel: Ermutigung/instr.
Ausführende: Bobo Stenson Trio
Ausführender/Ausführende: Bobo Stenson /Piano
Ausführender/Ausführende: Anders Jormin /Bass
Ausführender/Ausführende: Jon Fält /Drums
Länge: 05:09 min
Label: ECM Records 2233 / 2794575

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