Hinwendung zum Unbegriffenen

29. Juli 2023, 06:57

In seinem - postum erschienenen - Buch "69 Hotelzimmer", einem auf Reisenotizen basierenden literarischen Parcours durch Zimmer und Kontinente, schreibt der Filmemacher und Autor Michael Glawogger von einer Begegnung mit einer Kakerlake in Cárdenas auf Kuba.

Nach der ersten Reaktion von Ekel beginnt er die Kakerlake zu betrachten, mehr noch: mit ihr in einen - herrlich surrealen - Dialog zu treten. Was er dabei - in einem langsamen Prozess des Sehens, des genauen Hinsehens - entdeckt, ist die Schönheit des Tiers, die Harmonie seiner Gestalt, das, wie es im Text heißt, "elegante Fühlerspiel". "Es lag", so Glawogger, "es lag etwas Zärtlich-Sinnlich-Kommunikatives in dieser (…) Gebärdensprache".

Glawoggers Buch ist von einer Haltung getragen, die mich berührt. Es ist eine absichtslose und unvoreingenommene Haltung zur Welt, verbunden mit einem wachen Blick voller Neugier und vor allem voller Empathie, selbst und vor allem für das Kleinste, das Unspektakuläre. Was der Autor in seinen Erzählungen über Hotelzimmer, diese provisorischen und immer vorläufigen Heimstätten, realisiert, ist eine Verschiebung der Blickrichtung, und damit auch eine Verschiebung der gewohnten Wertungen. Das Detail, das scheinbar Unscheinbare, wird ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt; immer gilt die Wahrnehmung den Randzonen, den Hinterseiten des Sichtbaren, dem abseits Gelegenen, im geografischen wie im sozialen Sinn.

In unserer durchrationalisierten und entzauberten Gegenwart lädt dieses Buch ein zu neuen Formen des Verstehens jenseits der rationalen, ökonomischen Vernunft und zu einer Hinwendung, vielmehr noch: einer Hingabe an das Unvertraute, das Unbegriffene, das vorerst Fremde, das Andere. Und es lädt dazu ein, das Staunen wieder zu lernen.

Service

Petra Nagenkögel, "DORT. Geografie der Unruhe" Verlag Jung und Jung
Michael Glawogger, "69 Hotelzimmer", Die Andere Bibliothek

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Sendereihe

• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler