Zwischenruf

Nichts an diesen Bildern erzählt von dem Schmerz

von Milena Heussler, evangelisch-reformierte Theologin

Wie beginne ich über etwas zu sprechen, was für viele lange nicht darstellbar war? Wofür es noch immer nicht genug Sprache gibt? Wovon oft nur leise und vorsichtig im kleinen Rahmen erzählt wird? Ich fühle diese Unsicherheit, und doch: Etwas beginnt immer mit einem Anfang. Und dieser Anfang war für mich die Nachricht einer Freundin aus der Ferne: Sie schickte mir ein Bild, das dieses Jahr auf der Kunstmesse Art Basel ausgestellt wurde.

Auf meinem Handy erschien eine Frau, liegend in einem Becken, umgeben von Wasser, den Mund weit aufgerissen, als ob sie schreit. Am Beckenrand ein Mann und eine Frau, die ihre Hände in Richtung des Bauchs der Liegenden ausstrecken. Und dort sah man etwas, das jeden Tag geschieht, jedem und jeder von uns widerfahren ist, und das ich dennoch in dieser Klarheit noch nie auf einem Bild in einem Museum gesehen hatte: Die Geburt eines Kindes. Das Blut, die Schmiere und all die Flüssigkeiten, die dabei fließen. Den Moment, in dem ein neuer Mensch durch einen anderen Menschen in die Welt tritt.

Ich spürte meine Faszination über die Genauigkeit, mit der der Maler Srijon Chowdhury diesen Moment darstellt. Und gleichzeitig meine Irritation darüber, eine Geburt realistisch in einem Kunstwerk gezeigt zu sehen. Dieses Bild entsprach nicht dem, was ich gewöhnlich an Kunst sehe. Ich musste an einen Essay der Schriftstellerin Siri Hustvedt denken, in dem sie genau diese fehlende Präsenz von Geburt in der Malerei beklagt. Was fehlt, erzählt eine Geschichte, schreibt sie. Eine Geschichte, die sie in Bezug setzt zur fehlenden Thematisierung und der damit impliziten historischen Abwertung des weiblich gelesenen Körpers.

Als Theologin stehe ich selbst in einer Tradition, die zu dieser Leerstelle beigetragen hat. Gehe ich durch ein Museum in Wien, Rom, Paris oder sonst wo, so fallen sie mir alle ins Auge: Die Bilder von Maria mit dem Jesuskind, eine junge, wunderschöne Mutter, lächelnd, friedlich spielend mit ihrem Sohn. Nichts an diesen Bildern erzählt von dem Schmerz, von den Umbrüchen, von den Veränderungen, die mit einer Geburt verbunden sind.

Doch solche Abwesenheiten laden mich dazu ein, diese Leerstelle zu füllen, die ausgelassenen Geschichten von Geburt in den Traditionen zu beleben, mit Erzählungen von Gebärenden und Helfenden. Ich erinnere mich an ein Seminar zu Schwangerschaft in der Antike und an eine vortragende Wissenschaftlerin, die meinte, dass sie seit der Geburt ihres Kindes die alten Texte ganz neu verstehen würde. Ihre Erfahrungen ließen sie nun ganz direkt die Angst, das Warten, die Ambivalenzen, aber auch die Freude über die Geburt eines Kindes in den Texten erspüren. "Let us all tell more birth stories!" - "Lasst uns alle mehr Geschichten von Geburt erzählen!", forderte sie die Runde auf.

Und ich denke: Etwas beginnt immer mit einem Anfang. Und dieser Anfang unseres Lebens ist die Geburt. Lasst ihn uns malen. Lasst uns von ihm erzählen.

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Meredith Monk
Album: Book of Days / Gesänge aus dem gleichnamigen Film
Titel: Travellers 5
Gesamttitel: Meredith Monk: The Recordings / CD 4
Ausführende: Meredith Monk und Vokalensemble
Länge: 01:57 min
Label: ECM New Series 2750 / 4857334 (12-CD-Box)

Komponist/Komponistin: Meredith Monk
Album: Book of Days / Gesänge aus dem gleichnamigen Film
Titel: Evening
Gesamttitel: Meredith Monk: The Recordings / CD 4
Solist/Solistin: Meredith Monk /Gesangssolistin
Solist/Solistin: Andrea Goodman /Gesangssolistin
Länge: 02:52 min
Label: ECM New Series 2750 / 4857334 (12-CD-Box)

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