Die Entfaltung

26. September 2024, 06:57

Von rechtlicher Seite bedeutet Volljährigkeit den Zeitpunkt, an dem das Kind voll verantwortlich ist für alle Entscheidungen und Taten. In Österreich hat sich das seit den 1970er Jahren von 21 auf 19 und schließlich auf 18 Jahre eingependelt.

Im Mittelalter war das gar fließend, da waren Kinder von Landleuten je nach Arbeitsleistung und Körperbau mit 12 - 14 Jahren volljährig, aber mündig erst, wenn sie einen eigenen Hausstand gegründet und geheiratet haben, wobei Frauen dabei in eine relative Rechtsabhängigkeit vom Vater zum Ehemann kamen. So bestimmt jede Zeit und jedes System, wann jemand für voll zu nehmen ist. Wobei man im besten Fall das Kind von Anfang an für voll nimmt, natürlich unter Rücksichtnahme seiner kindlichen Reife und seiner sich permanent wandelnden Möglichkeiten.

Der Neurobiologe Gerald Hüther erinnert in einem Vortrag daran, dass wir uns immer entscheiden können, jemand zu sein, der ein bedingungsloses Interesse an der Entfaltung des anderen hat. Das ist Liebe, meint er. - Dass der andere sich darauf verlassen kann, dass ich mit ihm in Verbindung bin und alles dafür tun werde, dass er/sie sich entfalten kann. Bei einem volljährigen Kind ist hier manchmal weniger mehr, aber im Kern bleibt dieses bedingungslose Interesse an der Entfaltung bestehen.

Ich finde das einen wunderschönen Gedanken und stelle mir vor, dass er weit über die Kindheit oder die Kinder hinaus gelebt werden kann. Denn Erwachsenwerden und -sein muss im Falle gelungener Beziehungen nicht heißen, Verbindungen abzubrechen, um andere Bindungen zu finden und neue Wege gehen zu können; vielleicht heißt es vielmehr, Veränderung immer wieder mit Mut und Hingabe geschehen zu lassen, ohne Wachstumsschmerzen zu verleugnen, die auf allen Seiten dazugehören.

Service

Podcast abonnieren

Sendereihe

• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler