Dominik Barta - ZSOLNAY/LEONHARD HILZENSAUER
Gedanken für den Tag
Verse gegen den Anstreicher - Wer denkt, dem ist überhaupt nichts heilig
von Dominik Barta, Schriftsteller
5. Februar 2025, 06:57
"Es gibt keine schlimmere Ausschweifung als das Denken", lautet der Eingangsvers von Wislawa Szymborskas Gedicht "Ein Wort zur Pornographie", übersetzt aus dem Polnischen von Karl Dedecius.
Und weiter: "Dieser Übermut wuchert wie das windblütige Unkraut auf einem Beet, das für Gänseblümchen bestimmt war." Schlechte Zeit für Gänseblümchen, wo nachgedacht wird, denn allem Nach-Denken wohnt ein übermütiges Wuchern inne, das der Betulichkeit das Wasser abgräbt.
Übrigens: In welchem Verhältnis stehen Wislawa Szymborskas Verse aus 1986 zu Bertolt Brechts Versen aus 1939, die sich auf den Postkartenmaler Hitler beziehen und in denen es hieß: "In mir streiten sich/ Die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum/ Und das Entsetzen über die Reden des Anstreichers./ Aber nur das zweite/ Drängt mich zum Schreibtisch"?
Ob Gänseblümchen oder Apfelbäume, links oder rechts: Von schwärmender Seins-Vergessenheit jedweder Art hat sich Szymborska jedenfalls freigemacht. Dass sie Stalin einst ein Gedicht gewidmet hatte, ist ihr eine schmerzhafte Erinnerung: "Ich tat meine gereimte Schuldigkeit in der Überzeugung, das Richtige zu tun. Und das ist die furchtbarste Erfahrung meines Lebens."
So setzen Szymborskas Verse von nun an das Denken in Szene, elegant und ungereimt, und ihre Dichtung lässt sich gegen keine frivol-aktivistische Pose mehr ausspielen. Denken selbst ist der wichtigste Akt der Subversion oder wie es in "Ein Wort zur Pornographie" heißt: "Dla takich, ktorzy mysl?, swi?te nie jest nic." - "Wer denkt, dem ist überhaupt nichts heilig."
Service
"Wislawa Szymborska: Hundert Gedichte - Hundert Freuden. Sto wierszy - Sto pciech", ausgewählt von Karl Dedecius, Wydawnictwo Literackie
Joachim Simm (Hg.), "Bertold Brecht: Schlechte Zeit für Lyrik" in: "Deutsche Gedichte in einem Band", Insel Verlag
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Sendereihe
Gestaltung
Playlist
Komponist/Komponistin: Leos Janacek/1854 - 1928
Gesamttitel: THE UNBEARABLE LIGHTNESS OF BEING / Original Filmmusik
Titel: Das Käuzchen schreit noch : Andante / Nr.10 aus dem Zyklus für Klavier "Auf verwachsenem Pfad" / 1.Reihe
Anderer Gesamttitel: DIE UNERTRÄGLICHE LEICHTIGKEIT DES SEINS
Solist/Solistin: Ivan Klansky /Klavier
Länge: 01:00 min
Label: Metronome 8359182