Menschenbilder
Ulrike Edschmid, Schriftstellerin
"Ich bin im Matriarchat aufgewachsen." Die Autorin und Textilkünstlerin Ulrike Edschmid
9. Februar 2025, 14:05
Manche feiern sie als deutsche Antwort auf Annie Ernaux, als feinfühlige und zugleich kompromisslose Schriftstellerin, die ihr eigenes Leben in betörende Literatur verwandelt, andere halten sie schlicht und einfach für eine der bedeutendsten Gegenwarts-Autorinnen des deutschen Sprachraums.
Ulrike Edschmid, Jahrgang 1940, hat sich mit autobiographisch grundierten Romanen einen Namen gemacht. "Die Liebhaber meiner Mutter" zum Beispiel: in diesem Buch, 2006 erschienen, beschreibt sie die Lebensgeschichte ihrer Mutter, einer Kriegswitwe, die ihre Kinder während und nach dem Zweiten Weltkrieg als Alleinerzieherin auf einer Burg in der nordhessischen Rhön mit zupackendem Pragmatismus großzieht.
"Meine Mutter war eine selbstbestimmte Frau", erinnert sich Ulrike Edschmid in ihrer Altbauwohnung in Berlin-Charlottenburg: "Ich vermute, dass sie in den 50er- und 60er-Jahren Adenauer und die CDU gewählt hat, aber zugleich war sie alles andere als konservativ. Nachdem mein Vater im Krieg gefallen ist, hat sie eine Reihe von Liebhabern gehabt, aber die haben im Umgang mit uns Kindern nichts zu sagen gehabt. Ich bin in einem Matriarchat aufgewachsen."
Später, als Studentin in West-Berlin, engagiert sich Ulrike Edschmidt in der Studentenbewegung. Sie geht gegen den Vietnamkrieg auf die Straße, macht bei Protestaktionen gegen die Springer-Presse mit und wird zu einer der Pionierinnen der "Kinderladen-Bewegung". Eine Liebesbeziehung mit ihrem Kommilitonen Philip Werner Sauber wird zum Wendepunkt in ihrem Leben. Nachdem die Beziehung in die Brüche geht, schließt sich Edschmids einstiger Liebhaber der "Bewegung 2. Juni" an, einer Terrororganisation, die eine Reihe von Banküberfällen, Entführungen und Bombenanschlägen verübt. Im Mai 1975 wird Philip Werner Sauber bei einem Schusswechsel mit der Polizei auf einem Parkplatz in Köln getötet.
In ihrem Roman "Das Verschwinden des Philip S." hat sich Ulrike Edschmid auf behutsame, aber auch beklemmend ehrliche Weise mit diesem Kapitel ihrer Biographie auseinandergesetzt. "Philips Tod geht mir bis heute nahe", sagt sie.
Zugleich sieht die Schriftstellerin inzwischen vieles von dem, was ihre Genossinnen und Genossen und sie selbst in der 68er-Zeit bewegt hat, kritisch: "Wir haben damals überhaupt nicht begriffen, was es für ein Geschenk es war, in einer Demokratie zu leben. Das haben wir nicht ausreichend wertgeschätzt. Und gerade heute, wo diese Demokratie unter Druck kommt, müssen wir höllisch aufpassen, sie zu bewahren."
Ulrike Edschmid ist nicht nur eine bestechend präzise Chronistin der deutschen Zeitgeschichte, sondern auch eine unermüdlich produktive Textilkünstlerin. In die farbenprächtigen Quilts, die sie nachts nach der Schreibarbeit näht, fließen tausende und abertausende von Arbeitsstunden ein.
Gestaltung: Günter Kaindlstorfer
Service
Buch-Tipps:
Ulrike Edschmid: "Die Liebhaber meiner Mutter", Roman, Suhrkamp-Verlag, Berlin, 151 Seiten, ISBN: 978-3-458-24083-9
Ulrike Edschmid: "Das Verschwinden des Philip S.", Roman, Suhrkamp-Verlag, Berlin, 156 Seiten, ISBN: 978-3-518-46535-6
Ulrike Edschmid: "Die letzte Patientin", Roman, Suhrkamp-Verlag, Berlin, 111 Seiten, ISBN: 978-3-518-43183-2