Radiogeschichten
Ein taumelndes Frauenporträt
"Eine Frau, die trinkt" von Colette Andris. Aus dem Französischen von Jan Rhein
25. September 2025, 11:05
Ein literarisches Fundstück erstmals auf Deutsch. Formal wie inhaltlich mutig und schockierend gegenwärtig. Sein Thema ein bis heute existierendes Tabu: der weibliche Alkoholismus.
Das erste Mal betrunken ist Guita mit acht Jahren. Um ihre Eltern zu "bestrafen", die ihr kein Schmetterlingsnetz kaufen wollen, trinkt sie Wein aus dem großen Fass im Keller. Dann, sechzehnjährig, betrinkt sie sich auf einer Party mit Champagner. Das versteht ihr Freund Jacques als Freibrief und geht viel zu weit. Sie heiratet ihn, weil es sich so gehört, und trinkt weiter. Absinth, Portwein, Gin, Whisky.
Guita gibt sich den Männern und dem Rausch hin und ertränkt jeden Tag in "dem sinnlichsten aller Nebel, in dem alles in einem einvernehmlichen Nichts zu schwimmen scheint".
In diesem ebenso hungrigen wie trunkenen Frauenleben verbinden sich Lebenslust und Verzweiflung, Missbrauchserfahrungen und Selbstermächtigung in zwiespältiger Weise.
Colette Andris - Pseudonym von Pauline Toutey - wurde 1901 in Marseille geboren. Sie wuchs in einer Akademikerfamilie auf und studierte Literatur in Paris. Nach einem "normalen" Leben samt Professorinnen-Laufbahn stand ihr jedoch nicht der Sinn: Colette Andris verkörpert die Modernität der "années folles", als Schriftstellerin und auf der Bühne. Sie war die erste Nackttänzerin in der Geschichte der Music Hall, eine avantgardistische Autorin und versuchte sich als Theater- und Filmschauspielerin.
Im Jahr 1929 erschien ihr literarisches Debüt "La Femme qui boit" (deutsch: "Eine Frau, die trinkt"). Das Buch wurde bei Gallimard in der Reihe "Les Livres du Jour" veröffentlicht und fand viel Beachtung. Allein 1929 erschienen acht Auflagen.
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Colette Andris: Eine Frau, die trinkt", Wagenbach