Wer jung ist, geht weg

Einsame Dörfer im Buchenland

Von den Nordost-Karpaten breitet sich über die Berge und Hügel des Karpaten-Vorlandes bis zur podolischen Steppentafel im Norden und zur bessarabischen im Osten die Bukowina aus, das "Buchenland". Czernowitz ist die Hauptstadt der Region.

Die Bukowina, das "Buchenland", kam 1775 nach zweieinhalb Jahrhunderten unter osmanischer Oberherrschaft zum Habsburgerreich, zunächst als Teil Galiziens, ab 1849 als eigenes Kronland mit der Hauptstadt Czernowitz. Heute gehört ein Großteil der Bukowina zur Ukraine.

Entvölkerte Dörfer
Die ökonomischen Umwälzungen nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ende des Sozialismus hatten zur Folge, dass Zigtausende Bukowiner als Schwarzarbeiter in den Westen gingen. Zurück blieben nur die Kinder und die Alten.

Im Dorf Vitilivka treffen wir einen rüstigen Pensionisten. Sein Sohn und seine Schwiegertochter seien schon seit fünf Jahren illegal in den USA, gesteht er, der Sohn arbeite am Bau, die Schwiegertochter als Putzfrau. Ausgebildet aber seien beide als Musiklehrer.

Zerbrochene Familien

Eine alleinstehende Pensionistin berichtet, ihre Schwiegertochter sei wie die meisten anderen Frauen im arbeitsfähigen Alter nach Italien gegangen und habe sich scheiden lassen. Das sei auch bei anderen Familien passiert, etliche seien zerbrochen. Andererseits erzählt man sich in den Dörfern, dass viele Frauen im Westen einen Freund haben und zu Hause nach wie vor ihren Ehemann.

Bei den männlichen Arbeitsemigranten dürfte das nicht viel anders sein. Überraschenderweise aber wird das im Westen hart verdiente Geld in der Heimat nicht nur in den Bau von Wohnhäusern, sondern auch in Kirchen investiert.

Das Dorf der Lipowaner

Das von Kaiser Josef II. erlassene Toleranzpatent erlaubte es Russen, die eine Kirchenreform im 17. Jahrhundert nicht mitgemacht hatten, sich in der Bukowina anzusiedeln. Zentrum der so genannten Lipowaner wurde das Dorf Biala Krinitza. Hier wurde mit der Spende eines reichen Ehepaares aus Russland sogar eine Metropolitankirche errichtet.

Ein strenger Pope

Der Metropolit residiert allerdings schon seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr hier. Überhaupt ist das letzte Dorf der Lipowaner vom Aussterben bedroht. Die meisten jungen Menschen sind in die Städte weggezogen.

Der einzige junge Bewohner scheint der Pope zu sein, der vor ein paar Jahren aus Russland gekommen ist. Er ist streng und lässt über moralische Grundsätze nicht mit sich diskutieren. Scheidung komme nur durch den Tod in Frage. Oder wenn man ins Kloster gehe.

Czernowitz ist eine Welt
"Glauben Sie nicht, dass Czernowitz eine Stadt ist. Es ist eine Welt", meinte die dort geborene Publizistin Nora Gray. Czernowitz hat zahlreiche Geistesgrößen wie den Biochemiker Erwin Chargaff, aber auch eine große Zahl an Autoren hervorgebracht, darunter einen der berühmtesten Dichter des 20. Jahrhunderts: Paul Celan.

Der letzter Zeitzeuge

Der 1912 geborene und jiddisch schreibende Josef Burg war der letzte lebende Schriftsteller aus jener Zeit, da das mit kaum 100.000 Einwohnern relativ kleine Czernowitz eine Kulturmetropole war. Sein Vater war Flößer auf dem Fluss Czeremosz, die Mutter kam im Zweiten Weltkrieg in Transnistrien um. Er selbst hielt sich jahrelang im asiatischen Teil der Sowjetunion auf und lebte die letzten Jahrzehnte vor seinem Tod im Jahr 2009 wieder in Czernowitz. Täglich saß der zuletzt Erblindete an seinem Schreibtisch.

Ein riesiger Markt

Der Kalinivskij Rynok am Ufer des Pruth wird täglich von 50.000 Menschen besucht. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus chaotisch aus dem Nichts gewachsen, ist der Markt, wo es von Kleidung bis Lebensmitteln alles zu kaufen gibt, immer noch ziemlich unübersichtlich - und auch undurchsichtig. Als wir einige Frauen, die auf dem lehmigen Boden Krautköpfe und Kartoffeln verkaufen, nach ihrem Geschäft fragen wollen, wenden sie sich ab.

Dafür ist sofort ein mafios aussehender Mann in schwarzer Kunstlederjacke da, der fragt, was wir hier wollen. Er sei der Direktor dieses Marktsektors und ohne Einwilligung der Direktion dürfe man hier keine Interviews machen. Für diese Bewilligung müsse man bezahlen. Und während er mit steinerner Miene redet, bahnt sich ein Lastenzieher, der eine Fuhre Teppichrollen auf seinem zweirädrigen Karren transportiert, mit lautem Schreien seinen Weg durchs Gewühl.

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