Vorboten einer Verwandlung
Alternate Reality Games
Kunst, Unterhaltung und Alltag werden in Zukunft verschmelzen. Das behauptet der Medienforscher Jay David Bolter. Als Vorboten dieser Verwandlung des Lebens durch soziale Medien und virtuelle Welten sieht er die "alternate reality games".
8. April 2017, 21:58
Jay David Bolter, Jahrgang 1951, hat schon viele Entwicklungen im Bereich der neuen Medien gesehen. Vieles davon ist heute gar nicht mehr neu, sondern selbstverständlich geworden, wie zum Beispiel die Tatsache, dass man im World Wide Web von einem Dokument zum nächsten klicken kann, auch wenn dieses auf einem Server am anderen Ende der Welt gespeichert ist.
Hypertext, wie man dieses System nennt, würde das Schreiben beziehungsweise die Literatur verändern, glaubte Jay David Bolter Anfang der 1990er Jahre. Abgesehen von wenigen Experimenten würden Geschichten heute aber immer noch linear erzählt, merkt Jay David Bolter selbstkritisch an. Viel spannender scheinen die aktuellen Entwicklungen der sogenannten sozialen Medien wie Myspace, Facebook, Flickr, Wikipedia oder Twitter zu sein. Sie würden nicht nur den Alltag verändern, sondern auch die Kunst, meint der Medienforscher. Da sie längst etablierte Internet-Technologien für neue Formen der Kommunikation und der Partizipation für Millionen von Menschen nutzen und eine unglaubliche Fülle an kreativer Energie freigesetzt haben.
Alternative Realitätsspiele
Eine besonders interessante Entwicklung seien sogenannte alternate reality games, übersetzt "alternative Realitätsspiele", die viele verschiedene Technologien wie Internet, E-Mail, SMS, GPS oder Telefon und virtuelle wie physische Orte miteinander kombinieren.
Ein deratiges Spiel war zum Beispiel "Can You See Me Now" von der britischen Gruppe Blast Theory, das im Jahr 2001 einen Prix Ars Electronica erhalten hat. Bei "Can You See Me Now" wurden Spieler auf der Straße von online-Spielern gejagt, zum Einsatz kamen Taschencomputer, Mobiltelefone, GPS und das Internet. Die Verbindung von virtueller und realer Welt gäbe es auch bei anderen sozialen Medien, so Jay Bolter, aber: "Ich glaube, alternate reality games sind die Vorreiter dessen, was wir in Zukunft mehr und mehr im Alltag sehen werden – nämlich das Zusammenkommen von Internet und Informationstechnologien mit unserer physischen Welt daheim, auf der Straße oder am Arbeitsplatz."
Verschwimmen von Grenzen
Alternate reality games im Speziellen und soziale Medien im Allgemeinen würden damit die Grenzen zwischen Kunst, Unterhaltung und dem täglichen Leben verschwimmen lassen. In gewisser Weise würden soziale Medien also die Forderungen der Avantgarde-Bewegungen des 21. Jahrhunderts, wie Dadaismus oder Fluxus erfüllen, meint Jay David Bolter.
"Diese Aktivitäten haben eine große Ähnlichkeit mit den Aktivitäten, die wir heute rund um mobile Kommunikation und soziale Netzwerke überall in den Industrieländern sehen. Daran beteiligen sich aber viel mehr Menschen als je zuvor. Neben alternate reality games haben vor allem flash mobs diesen Avantgarde-Charakter."
Flash mobs
Flash mobs sind große Gruppen von Menschen, die kurzfristig an einem Ort zusammenkommen, um eine Aktion durchzuführen und sich meist via SMS oder sozialen Netzwerken organisieren. Ein berühmtes Beispiel ist eine Gruppe aus rund 200 Leuten, die wie ganz normale Reisende in die Grand Central Station in New York spazierten, alle im gleichen Moment in ihrer Position erstarrten und fünf Minuten lang regungslos stehenblieben. Das sorgte bei den ahnungslosen Passanten für Irritation, aber auch für ein Nachdenken. Ein alternate reality game, das ganz bewusst über die Kreativität auf den Alltag rückwirken sollte, war "world without oil".
"Tausende von Menschen haben daran teilgenommen und Blogs geschrieben, Videos produziert und vieles mehr. Das Spiel wurde zu einer Art Schulungsaufgabe für die Teilnehmer. Sie haben dadurch über die Umwelt und den verantwortlichen Umgang mit Energie nachgedacht. Das ist ein Beispiel dafür, wie ein Spiel zu einem künstlerischen Zugang zur Lebenspraxis werden kann."
Hör-Tipp
Digital.Leben, Mittwoch, 3. Juni 2009, 16:55 Uhr
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