Pierre Boulez wird 85

Als Cage bei Boulez klingelte

Pierre Boulez wird am 26. März 85 Jahre alt. Der Briefwechsel zwischen dem Meister der Reihentechnik und John Cage, dem Magier des Zufalls, wirft auf beide Komponisten-Legenden spannende Schlaglichter. Dokumente von musikgeschichtlicher Bedeutung.

Boulez und Cage, gelesen von Renato Uz und Tex Rubinowitz

Neue Maßstäbe hat Pierre Boulez gleich in mehreren Disziplinen gesetzt, als Komponist, als Dirigent, und auch als Organisator im französischen Musikleben. Wer mit ihm gearbeitet hat, weiß um die ziemlich faszinierende Mischung aus Professionalität, Liebenswürdigkeit und Bestimmtheit.

Würdigungen all dessen erfolgen aus Anlass seines 85. Geburtstages in mehreren Ö1 Sendungen. Und dann gibt es noch eine historische Feinheit aus seinem Komponistenleben: Den über einige Jahre hin intensiven Briefwechsel zwischen Pierre Boulez und John Cage zu Beginn der 1950er Jahre.

Cage läutet bei Boulez

Mitte 1949 läutet es an der Wohnungstür von Pierre Boulez in Paris und John Cage stellt sich vor. John Cage war für einen halbjährigen Studienaufenthalt nach Europa gekommen. Der 36-Jährige folgte einem Rat des amerikanischen Komponisten Virgil Thomson und besuchte den 24-Jährigen Pierre Boulez. Es folgten Monate des musikalischen Austausches in Paris, des gemeinsamen gesellschaftlichen Umgangs, die Entwicklung einer offenbar intensiven Freundschaft. Ende des Jahres verließ Cage Paris wieder Richtung New York und es sollte drei Jahre dauern, bis Pierre Boulez dann endlich in die USA - und das hieß natürlich auch auf Besuch zu John Cage - kam.

Aus diesen drei Jahren stammt der Großteil des erhaltenen und veröffentlichten Briefwechsels zwischen diesen beiden Komponisten. Zwei Seelenverwandte hatten sich gefunden: Lange, ausführliche und mit Tabellen und Notenskalen gefüllte Analysen eigener Werke wechseln sich ab mit verspielten Anmerkungen über gemeinsame Bekannte und kurzen heftigen Bezeugungen, wie sehr man einander brauche.

Lieber Pierre, ich habe soeben Deine "2. Klaviersonate" bekommen und sie hat mir ein enormes Maß an Vergnügen bereitet. Jede einzelne Note erzählt vom Neuesten und hält mich am Laufenden. Ich bin in einem Zustand der Ekstase - und der Sentimentalität. In Wahrheit interessiert mich niemand außer Dir.

Hoffnung und Tröstung

Transatlantische Reisepläne nehmen einen wichtigen Stellenwert im Briefwechsel von Pierre Boulez und John Cage ein. Man hofft gemeinsam und tröstet einander. Doch das Geld ist knapp und immer wieder versuchen sie, füreinander Stipendien oder Vortragsreisen zu organisieren, oder die Gelegenheit einer Tournee mit der jeweiligen befreundeten Theatergruppe oder Tanztruppe, also mit den Compagnien von Jean-Luis Barrault oder Merce Cunningham zum gegenseitigen Besuch zu benutzen.

Lieber John, vielleicht - es ist aber wirklich noch nicht sicher -, fahre ich mit Jean-Luis Barrault drei Monate lang nach Südamerika! Ich träume davon! Ich würde gerne eine lange Reise unternehmen - 15 Tage am Schiff für die Hinfahrt - und 15 Tage für die Rückfahrt - "a month on the sea": Ein guter Titel für einen entzückenden Song, so einen von Frank Sinatra.

Genaue Werkbeschreibungen

Die Briefe werden länger und analytischer. Im Jänner 1950 beispielsweise schickt Cage eine genaue Beschreibung seines Stückes "Construction in Metal". Die Rhythmik, die Besetzung, die Klangfarben, die kompositorische Konstruktion: Alles wird minutiös geschildert. Erstaunlicherweise schreibt Cage diesen Teil des Briefes auf Französisch, den darauffolgenden, locker scherzenden aber dann auf Englisch.

Ich gründe eine Gesellschaft namens "Kapitalisten Ges.m.b.H" (damit wir nicht als Kommunisten angeklagt werden können); jeder, der beitritt, muss beweisen, dass er mindestens 100 Schallplatten oder ein Aufnahmegerät zerstört hat; außerdem wird jeder, der beitritt, automatisch Präsident. Wir werden Verbindungen pflegen mit zwei anderen Organisationen, jener "Für den Vollzug von Unsinn" (jeder, der etwas Absurdes tun will, bekommt das Geld dafür) und jener "Gegen den Fortschritt".

Der Retourbrief von Pierre Boulez entbehrt neben den kompositorischen Analysen ebenfalls nicht des Humors.

Lieber John, Ich hingegen muss etwas ernsthafter schreiben, denn ich habe Dir von einer Geburt zu erzählen. Der Sohn der Gattis wurde vor drei Wochen geboren; und wir konnten ihn nicht Annalivia taufen, sondern nur Stephen (freilich nicht Daedalus). In Wirklichkeit heißt er "Civil War". Aber der Bürgermeister wollte diesen merkwürdigen Namen nicht eintragen.

Joyce als roter Faden

Anspielungen auf James Joyces Bücher "Ulysses" und "Finnegans Wake" ziehen sich wie ein roter Faden durch diesen Briefwechsel. Auch andere Literatur blitzt immer wieder auf: Er hätte letztlich eine Menge von Artaud gelesen, schreibt Cage einmal an Boulez, und fügt hinzu: "...und zwar wegen Dir und wegen David Tudor, der ebenfalls wegen Dir Artaud liest."

Nur drei, vier Jahre bleibt der Briefwechsel zwischen Pierre Boulez und John Cage intensiv. Dennoch ist er von musikgeschichtlicher Bedeutung. Es waren genau die Jahre, in denen Pierre Boulez darangeht, die Reihentechniken in Regionen ungeahnter Reichhaltigkeit zu führen, und in denen John Cage das I-Ging Orakel und das Prinzip Zufall entdeckt.

Kompositorische Entdeckungsreisen

Pierre Boulez schreibt zu Beginn der 50er Jahre an John Cage:

Du kannst Dir nicht vorstellen, wie glücklich ich war, als ich Deinen Brief las, um dabei zu sehen, dass wir uns im selben Rhythmus auf Entdeckungsreise begeben. Ich gedenke, einen kleinen Schmöker über das Prinzip der seriellen Organisation von Klängen zu schreiben. Begriffe wie Modalität, Klangfarbe und Reihe werden so eng kombiniert, dass sie in einen Begriff verschmelzen. Man kann jedes Klangmaterial organisieren, welcher Natur es auch sei!

Das Auseinanderbrechen des kurzen und heftigen "dialogue trans-ocean", des transozeanischen Dialogs, wie Pierre Boulez in einem der letzten Briefe an John Cage schreibt, ist weniger in den Briefen selbst - man schreibt sich einfach keine Briefe mehr -, denn in der Hinwendung zu neuen Weggenossen ablesbar. Boulez entdeckt Stockhausen, Cage entdeckt Feldman.

Verbale Gratwanderung zum 50er

Einmal noch, zum 50. Geburtstag von John Cage, rafft sich Pierre Boulez nach einer mehrjährigen Pause zu einer brieflichen verbalen Gratwanderung auf. Und es wird ein surrealistischer Kraftakt, jedem Übersetzungsversuch sowieso hohnlachend, alle früheren Joyce-Anspielungen meilenweit hinter sich lassend, so verzweifelt wie immer noch ans Utopische glaubend. Der Versuch einer Übersetzung eines winzigen Ausschnitts:

Und der Achat bleibt zersplittert, immer auch als Hypothese … die schwarzen Sonnen - auf ein Neues - werden mich nicht zum Sohn des Lichtes machen!!
Voilà einige Strophen meiner "Ballade":
Weder in früheren Zeiten,
noch in unlängst vergangenen Zeiten,
noch in baldigen Zeiten,
aber in Zeiten, die abgestarrt sind, fixplodiert, spiegelreflektiert, eingeschnittisoliert, verzauberungsstrahlend, narkoselesen, gefundverloren; Verloren! Verloren? Was? Ja!