Pierre Boulez wird 85

Boulez als Dirigent

Wie man ohne Kompromisse Karriere macht: Der Dirigent Pierre Boulez steht mit 85 weiter für analytisches Musizieren ohne Traditions-Ballast und für ein Repertoire mit der Zweiten Wiener Schule und der französischen Moderne im Mittelpunkt.

Am Anfang war der Komponist: Nachdem Pierre Boulez zunächst Mathematik studiert hatte, ging er ans Pariser Consérvatoire zu René Leibowitz und Olivier Messiaen - der Schönbergianer Leibowitz, der als Beethoven-Dirigent revolutionär "zu den Quellen" ging, der Klangmagier Messiaen in seiner religiös grundierten Vogelstimmen-Welt.

Gleich mit den ersten eigenen Arbeiten, die, von Anton von Webern ausgehend, den Serialismus auch auf andere musikalische Parameter als nur die Tonhöhe ausdehnten, stand Boulez in der ersten Reihe der musikalischen Nachkriegs-Avantgarde: den "Notations", noch in der Klavierversion, der 2. Piano-Sonate, Kantaten, die so Messiaen-haft klingende Namen trugen wie "Le soleil des eaux".

Im Epizentrum der musikalischen Moderne

Eine Aufbruchszeit im Zeichen des "nie wieder!" und des Experimentier-Fiebers: Bei Pierre Schaeffer, dem "musique-concrète"-Guru, wird Pierre Boulez mit dem Neuesten am Sektor "Geräuschmusik" konfrontiert, er probiert Arbeit mit Elektronik aus, 1952 ist er erstmals bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt, um bald als Dozent ins deutsche Epizentrum der musikalischen Moderne zurückzukehren.

"Le marteau sans maitre" entsteht, dann "Pli selon pli", Kompositionen, die bis heute als Schlüsselwerke der Ära Bestand haben. 1954 gründet Boulez in Paris die Konzertreihe "Domaine Musical", die 14 Saisonen lang dem Neuesten vom Neuen ein Forum bietet. Gleichzeitig, via Darmstadt, wird der für die Avantgarde offene Südwestfunk in Baden-Baden auf Boulez aufmerksam und gewinnt ihn als Gastdirigenten fürs Südwestfunk-Orchester. Die Dirigentenkarriere beginnt, mit Eigenem, mit Werken lebender Kollegen zunächst, dann auch mit Älterem, speziell: Musik der Zweiten Wiener Schule, Schönberg, Berg, Webern.

Wagner Pathos-frei

Pierre Boulez ist der seltene Fall eines Dirigenten, der sich vom Heutigsten in der Musik langsam ein Stück in die Vergangenheit zurückgearbeitet hat - nicht zu weit! -, und immer mit der gleichen Herangehensweise, als hätte er das Neueste vom Neuen vor sich: Analytisch und ohne sich von "Traditionen" beeindrucken zu lassen.

1966 folgte er, auf Einladung noch von Wieland Wagner, bei den Bayreuther Festspielen Hans Knappertsbusch als "Parsifal"-Dirigent nach: ein Coup! Wagner schlank, durchsichtig, Pathos-frei, in flüssigsten Tempi - damals schwer irritierend. Die geistige und die Orchesterfarben-Klarheit eines Claude Debussy hat Boulez zu Wagner mitgenommen; sein erstes Dirigat von "Pelléas et Melisande" folgte bald.

Bernstein-Nachfolger in New York

Und dann, 1971, der große Sprung vorwärts in der Dirigentenkarriere: Gleichzeitig wählen die New Yorker Philharmoniker und das BBC Symphony Orchestra in London Pierre Boulez zu ihrem Chefdirigenten. New York Philharmonic, wo schon Gustav Mahler Chef war, wo Boulez dem charakterlich so ganz anders gearteten Leonard Bernstein (auch ein "composer-conductor") nachfolgt, verlangt nach Debussy, Ravel, Bartok, Strawinsky, Varèse, Berlioz; Boulez erfüllt diese Bedürfnisse mit schnörkelloser Virtuosität und ist mit dem Orchester bald Stammgast im Plattenstudio.

Bei der BBC ist man (auch finanziell) bereit, einen total zeitgenössischen Kurs zu fahren: "state-of-the-art"-Aufnahmen von Schönbergs "Moses und Aron" und "Gurre-Lieder" stehen genauso am Programm wie Webern-Feste.

Der Bayreuther "Jahrhundertring"

Einen Musiker mit diesem Profil und einen Opernregie- und Wagner-Neuling gerade für den "Jahrhundertring", die Festaufführung aus Anlass des 100-Jahr-Jubiläums der ersten Bayreuther Komplettaufführung vom "Ring des Nibelungen", am "Grünen Hügel" zusammenzuspannen, diese Idee hatte der Prinzipal der Richard-Wagner-Festspiele, Wolfgang Wagner. 1976 war es so weit für Pierre Boulez und Patrice Chéreau, unter wütenden Publikumsprotesten und mit sehr gemischtem Presseecho.

Die Erkenntnis, dass der "Jahrhundertring" auch eine theatralische Jahrhunderttat war, sickerte erst allmählich ein; Wolfgang Wagner hatte die Kraft, die Anfeindungen "auszusitzen", bis die Produktion im fünften Spieljahr Kultstatus erreicht hatte. Für Stimmfetischisten war der "Boulez-Ring" immer problematisch: etwas, das man sich vor allem wegen einiger überragender Sänger-Darsteller-Leistungen auf Video angesehen hat... Beim Nur-Hören kommt heraus, wie Boulez das Orchester-Stimmengeflecht auslichtet, so wie das im Repertoire-Spielbetrieb nie zu erleben ist. Die gewissen "großen Brocken" allerdings, die "Stellen", mit denen Eindruck geschunden wird, gibt es bei diesem "Ring" nicht. Das wäre nicht der Wagner von Pierre Boulez.

Kompromisslos zum Erfolg

Immer bereit, sich dem theatralischen Ganzen unterzuordnen, niemals bereit, Sängeroper mitzutragen, hat Boulez (anstatt, wie in einer oft und oft zitierten frühen Interview-Äußerung gefordert, die Opernhäuser "in die Luft zu sprengen") in den Jahrzehnten danach noch bei wenigen ausgesuchten Musiktheaterproduktionen nach seinem Geschmack mitgewirkt: darunter mit Cheréau bei der von Friedrich Cerha auf drei Akte vervollständigte Berg-"Lulu" in Paris, bei "Pelleas" in Peter-Stein-Regie, beim Bayreuther Schlingensief-"Parsifal" von 2004, zuletzt bei Janaceks "Aus einem Totenhaus", wieder mit Cheréau als Partner.

Im Konzertsaal wurde "Herzog Blaubarts Burg" zu einem seiner Opern-Lieblingsstücke. Wie Berg-"Belcanto" sein kann, demonstrierte er mit Jessye Norman als Partnerin (in Orchesterliedern und der "Wein"-Konzertarie). Die spärlich und hieroglyphenhaft hingetupften Töne einer Webern-Kantate können vor Spannung bersten, wenn Boulez am Pult steht, scheinbar ungerührt.

Keine Effekthascherei

Vordergründiger Effekt ist ihm vollends fremd: Nüchtern, ruhig, kühl und zweckmäßig wirkt Pierre Boulez im Dirigier-Handwerklichen. (Auch der Dirigent Richard Strauss wurde so beschrieben: "Nicht ich soll schwitzen, sondern das Publikum!")

Auch "seinem Repertoire" ist er nie untreu geworden: Wer Pierre Boulez einlädt, bekommt Musik von Mahler bis in die Gegenwart - und immer öfter auch Boulez-Eigenkompositionen, an denen er gerne über Jahrzehnte weiter feilt. (Die oft angekündigte Oper, idealerweise mit einer Vorlage von Jean Genet, ist hingegen ungeschrieben geblieben.)

Die Berliner und Wiener Philharmoniker, die Meisterorchester in Cleveland, Amsterdam, London und Chicago, das Mahler Chamber Orchestra und die Staatskapelle Berlin, nicht zu vergessen das von ihm in Paris für Neue Musik gegründete Ensemble InterContemporain zählen Boulez zu ihren regelmäßigen Gastdirigenten. Mit seinen Überzeugungen und seiner Überzeugungskraft, mit seiner Aura von Integrität und Autorität steht Pierre Boulez als ein Fels in der Brandung des Musikbetriebs.